Noch heute leiten wir ein Rechenergebnis gern mit den Worten ein: „Das macht nach Adam Riese “ Dass Adam Riese über 400 Jahre nach seinem Tode in unserem Sprachschatz noch so lebendig ist, stellt ein Spiegelbild seiner weit über die Zeit reichenden Bedeutung dar. Im Jahre 1574 erschien Rieses ‚Rechenbüchlin‘ als erstes gedrucktes Rechenbuch überhaupt und Riese wurde dadurch zum allseits anerkannten Rechenlehrmeister des deutschen Sprachraumes. Letztlich ist er auch unser Rechenlehrmeister.
Der Vorrede zum Rechenbüchlin kann man entnehmen, dass Adam Ries (auch Riese oder Riesn) noch Vorstellungen von der Mathematik hatte, die sich stark am den klassischen griechischen Vorstellungen orientierten. Auch für Riese war „alles Zahl“. Ob er bereits irrationale Zahlen kannte, lässt sich aus seinem „Rechenbüchlin“ nicht ablesen. Aber für Riese war Rechnen ein Fundament aller Künste (gemeint sind die klassischen Wissenschaften). Sein besonderes Verdienst liegt in der Nutzung des Stellenwertsystems und damit in der Überwindung der unhandlichen römischen Zahlen.
Den Aufbau des Dezimalsystems (als noch heute wichtiges Stellenwertsystem) erklärt Riese gleich nach dem Vorwort zu seinem „Rechenbüchlin“. Im Zusammenhang mit Grundrechenarten im Dezimalsystem werden sogenannte Überträge wirksam. Da Entsprechendes auch für den Abakus (z.B. den römischen Handabakus) von Bedeutung ist, erfindet Riese eine zeichnerische Darstellung eines Abakus. Dazu werden die Stangen, auf denen die Perlen des Abakus verschoben werden, als parallele Linien dargestellt (daher der Untertitel seines Rechenbuches „Rechnen auf Linien“). Für die Anlehnung an das Dezimalsystem werden die Parallelen mit Zehnerpotenzen bezeichnet. Überflüssigerweise (wohl in Anlehnung an den Abakus) legt Riese zwischen zwei aufeinanderfolgende Zehnerpotenzen jeweils noch eine Linie für die Hälfte der größeren Zehnerpotenz.
Damit ist der Faktor von Linie zu Linie bei Riese 5 oder 2 (die beiden Primteiler von 10). Zu Rieses Zeit orientierten sich die gebräuchlichen Münzwerte noch nicht am Dezimalsystem. Vielmehr hatte eine kleinere Münze einen Wert, der ein Bruchteil des nächstgrößeren war, aber selten 1/5 oder 1/2 (Beispiel: 1 Franken hat 8 Groschen). Damit wird das Rechnen in verschiedenen Spalten (für verschiedene Münzwerte) erforderlich, wie es ja für verschiedene Stellenwerte ebenfalls gilt. Allerdings verlangt die Berechnung des Übertrages genaue Kenntnis der Umrechnungsfaktoren. Dazu führt Riese gegen Ende seines Buches Umrechnungen für viele der damals noch regional unterschiedlichen Geldeinheiten auf.
Riese stellt dem Leser Aufgaben aus Handel und Wandel, die er exemplarisch vorrechnet. Soweit er Rechenregeln nennt, sind dies Vorschriften für die Gewinnung von Teilergebnissen und Angaben zu den Positionen gegebener und als Zwischenergebnis errechneter Zahlen. Welche Positionen wie miteinander zu verknüpfen sind, schreibt Ries ohne jede Erläuterung vor. Die vom Leser geforderte Leistung ist rein reproduktiver Art. Ein Verstehen des jeweiligen Vorgehens ist für Riese nicht Ziel seiner Ausführungen.
Als erstes Beispiel sei das Kapitel „Regula Detri“ aus dem Rechenbüchlin angeführt (übersetzt in unsere moderne Sprache):
Die „regula Detri“ ist eine Regel von drei Dingen. An die dritte Position wird die gegebene Größe dessen gestellt, was (deren zugeordnete Größe) wir berechnen wollen. Das soll die „Frage“ heißen. Diejenige von den anderen beiden gegebenen Zahlen, welche die gleiche Einheit hat, wie die Frage, soll an die erste Position gestellt werden. Und die verbliebene gegebene Zahl kommt in die Mitte. Die hinteren beiden Zahlen werden multipliziert und das Produkt wird durch die vordere geteilt. Das Ergebnis hat die gleiche Einheit, wie die mittlere Zahl. Darauf folgen mehrere Beispiele, u.a.: 32 Ellen Tuch kosten 28 Franken. Was kosten 6 Ellen? Aufzuschreiben ist 32 28 6 und zu rechnen: 6·28:32 = 168:32 = 5,25. 6 Ellen Tuch kosten also 5,25 Franken.
Natürlich fehlt hier eine Abgrenzung der Begriffe der direkten und der indirekten Proportionalität, die zu Rieses Zeit möglicherweise noch nicht erforderlich war. Stattdessen werden aber zahlreiche Beispiele mit unterschiedlichen Waren für unterschiedliche Preise vorgerechnet. Die damit angeregte Abstraktionsleistung zwecks Übertragung der gegebenen Regel auf analoge Beispiele bleibt dem Leser überlassen.
Als nächstes wird das Kapitel „Regula falsi“ aus Rieses Rechenbuch vorgestellt:
„Regula falsi“ ist die „Regel vom Falschen“, gemeint ist: „… vom falschen Ansatz“. Der falsche Ansatz und auch der vorsätzlich begangene Fehler sind immer dann Bestandteil einer erfolgreichen Heuristik, wenn der Fehler kurz vor Schluss der Rechnung korrigiert werden kann, weil seine Größe oder seine Struktur bekannt sind und nicht aus dem Auge verloren wird, dass man einen Fehler begangen hat. Man denke an das Multiplizieren der Babylonier, die beim fortgesetzten Halbieren Fehler in Kauf nahmen, die sie am Schluss der Rechnung korrigieren konnten.
Adam Riese (auch Ries oder Risen) stellt in seinem Rechenbüchlin unter der Überschrift „Regula falsi“ eine Aufgabe, die in unserer heutigen Sprache wohl so lauten würde:
„Jemand legt einen Gelbetrag so lange an, bis er sich verdoppelt hat. Danach entnimmt er einen Gulden und legt das Übrige wieder solange an, bis es sich verdoppelt hat. Nun entnimmt er zwei Gulden und legt das Übrige zum dritten Mal an, bis es sich verdoppelt hat. Nach Entnahme von drei Gulden bleiben 10 Gulden übrig. Welchen Geldbetrag hat er anfangs gehabt?“
In der heutigen Mittelstufenmathematik würde man die Aufgabe wohl so lösen:
Geldbetrag am Anfang x
Verdoppeln und Entnahme von 1 2x – 1
Zweites Verdoppeln und Entnahme von 2 2(2x-1) – 2
Drittes Verdoppeln und Entnahme von 3 2(2(2x – 1) – 2) – 3
Am Schluss verbleiben 10 2(2(2x – 1) – 2) – 3 = 10
Umformung 8x – 11 = 10
Lösung x = 2 5/8
Da ein Gulden 8 Schillinge hat, besaß derjenige, von dem hier die Rede ist, am Anfang 2 Gulden und 5 Schillinge. Adam Ries schlägt einen ganz anderen Lösungsweg vor; er schreibt, wieder in die heutige Sprache übersetzt:
„Nimm an, er hätte drei Gulden gehabt. Nach Verdoppeln und Abzug von einem Gulden bleiben 5 Gulden. Das nächste Verdoppeln samt Abzug von 2 Gulden ergibt 8 Gulden. Das dritte Verdoppeln samt Abzug von 3 Gulden führt zu 13 Gulden. Es sollten aber 10 Gulden übrig bleiben. Das Ergebnis weicht davon um +3 Gulden ab. (Die Abweichung nennt Ries „Lüge“.) Eine zweite Annahme, es seien am Anfang 4 Gulden gewesen führt zu einer Lüge von +11 Gulden.“
Die beiden Annahmen, die beiden „Lügen“ sowie die Differenz der beiden „Lügen“ (11 – 3 = 8) schreibt Adam Ries dann so auf:
3 +3
8
4 +11
Die im Quadrat angeordneten Zahlen multipliziert Ries dann paarweise „über Kreuz“, subtrahiert die beiden Produkte und dividiert diese Differenz durch 8. (3∙11 – 4∙3):8 = 2 5/8.
Ries erklärt nicht, warum dieser Weg in jedem Falle zum Ziele führt. Die heutige Schulmathematik hat dafür folgende Erklärung: Die Zuordnung
angenommener Ausgangsbetrag(x) → Abweichung vom Endbetrag (Lüge; y)
ist, wie wir oben schon zeigen konnten, eine lineare Zuordnung, von der wir zwei Zahlenpaare nach Ries‘ Anweisungen bereits gefunden haben. Die Zwei-Punkte-Form für Geradengleichungen liefert dann:
(*) (11-3)/(4-3)=(y-3)/(x-3)
Dem richtigen Ausgangsbetrag r ist dann der Abweichungsbetrag 0 zuzuordnen. Durch Einsetzen des Punktes (r/0) in Gleichung (*) errechnet sich r = 2 5/8.
Wählen wir statt der von Ries gefundenen Zahlenpaare die Paare (u/v) und (w/z), so erhalten wir bei der eben geschilderten Vorgehensweise:
(**) (z-v)/(w-u)=(0-v)/(r-u)
Die Auflösung von Gleichung (**) nach r ergibt:
(***) r=(uz-vw)/(z-v)
Dies ist aber genau das, was Ries in der Form
u v
z – v
w z
aufgeschrieben und berechnet hatte. Die von Ries gewählte quadratische Anordnung der Zahlen u, v, w, z heißt Determinante und ihr Zahlenwert wird genau so berechnet, wie Ries in seinem Lösungsweg fordert. Es darf also vermutet werden, dass Ries Determinanten schon kannte.
Als drittes und letztes Beispiel erwähnen wir noch die Summenbildung arithmetischer Reihen und Potenzreihen – bei Riese „Progressio“ genannt. Riese gibt zu arithmetischen Reihen die Anweisung, das erste und das letzte Folgenglied zu addieren und die Anzahl der Folgenglieder als zweite Zahl daneben zu stellen. Da in diesem Zahlenpaar mindestens eine gerade Zahl vorkomme, könne eine der beiden Zahlen halbiert werden. Dann sei das Produkt der halbierten und der anderen Zahl gleich der Summe der Reihe. Schon um 150 v.Chr. kannte der griechische Mathematiker Hipsikles diese Methode der Berechnung von Summen arithmetischer Reihen. Der Grundschüler Gauß verwendete diese Methode, als er und seine Klassenkameraden die Summe der Zahlen von 1 bis 100 berechnen sollten. Was Riese von Hipsikles oder Gauß von Riese wusste, ist nicht überliefert.
Riese erklärt seine Methode – wie üblich – nicht, sondern führt 2 Beispiele vor. Zunächst die Summe er natürlichen Zahlen von 7 bis 25 und dann die Summe der durch 3 teilbaren Zahlen von 3 bis 48. Im ersten Falle ist die Summe aus erster und letzter Zahl, im zweiten Falle ist die Anzahl der Summanden gerade.
Zur Berechnung der Summe eine Potenzreihe führt Riese den Begriff „Übertretung“ ein, der heute dem Begriff „konstanter Quotiemt“ entspricht. Hier wird ganz deutlich, dass Riese überhaupt erst einmal eine Terminologie erfinden musste, die auch einer breiten Bevölkerung verständlich sein konnte. Dann schlägt er vor, den letzten Summanden der Reihe mit der Übertretung zu multiplizieren und von diesem Produkt die Übertretung zu subtrahieren und anschießend die so gewonnene Zahl durch die um 1 verminderte Übertretung zu dividieren. Das wird in Formelsprache (q·q^{n}-q)/(q-1) sehr viel übersichtlicher, aber das Konzept der Variablen existierte zu Zeiten von Riese im deutschen Sprachraum noch nicht. Man beachte, dass hier nicht eine allgemeine Formel für die Summe geometrischer Reihen angegeben wird, sondern die Summe der (natürlichen) Potenzen q^{1}+q^{2}+q^{3}+ … + q^{n}.