Die Anwendbarkeit von Mathematik ist offensichtlich. Warum aber ist Mathematik so gut anwendbar? Natürlich auch, weil wir für unsere Wirklichkeit Modelle entwerfen, die mathematisch fassbar und darstellbar sind. Die Transformation mathematischer Darstellungen in neue, aufschlussreichere Darstellungen unterliegt festen Regeln, die sich im langen Gebrauch als widerspruchsfrei bewährt haben.
Das ist aber nicht der wichtigste Grund, Mathematik zu betreiben. Dieser liegt – frei nach Georg Cantor – in der Freiheit der Mathematik. Und damit auch und gerade in der Freiheit der Mathematik von ihrer Anwendbarkeit. Als Mathematiker wie Rafael Bombelli nach einer Zahl suchten, deren Quadrat –1 ist, taten sie dies, weil etwas in der Frage, über die sie nachdachten, sie dazu trieb, und nicht, weil komplexe Zahlen in der Wechselstromlehre schöne Anwendungen haben. Als Carl Friedrich Gauß bekannte, dass er die „Arithmetik“ (Zahlentheorie) für die „Königin der Mathematik“ halte, wusste er nichts von den heutigen Anwendungen in der Kryptographie.
Die Überzeugung, der Mathematikunterricht müsse anwendungsorientiert oder alltagsnah sein, hat viele Didaktiker dazu verleitet in der Anwendbarkeit den motivierenden Schlüssel zur Mathematik zu suchen. Weniges ist falscher als dies: Man braucht im Alltag nicht mehr Mathematik als den Dreisatz und etwas Zinseszins beim Baukredit. Wer im Unterricht anderes zu suggerieren versucht, macht sich und seinen Schülern etwas vor. Aber Schüler merken das natürlich.
Ein richtig verstandener Mathematikunterricht müsste die Schülerinnen und Schüler lehren, im Möglichkeitsmodus zu denken: „Nehmen wir einmal an, dass...“. Er müsste lehren, Hypothesen zu formulieren und im Möglichkeitsmodus zu Ende zu denken, aus dem Gegebenen herauszutreten und Anderes, Neues zu wagen.
Mathematische Freiheit ist innovativ.
Mathematische Freiheit besteht schließlich auch darin, sich mit dem zu beschäftigen, was einen wirklich interessiert. Es ist die Freiheit, stunden- und tagelang, unter Umständen auch noch länger über ein bestimmtes Problem zu grübeln. Es ist die Freiheit, dicke Bretter zu bohren.
Es könnte ja sein, dass die Festlegung von Rechenwegen zum Wesen der Mathematik gehört, was viele Menschen im Übrigen glauben. Der geforderte pädagogische Zugang würde dann dem Fach widersprechen, was hochproblematisch wäre. Aber genau dieser Widerspruch besteht nicht.
Es ist das Verdienst von Heinrich Winter, mathematische Argumente für die freie Wahl der Rechenwege in den Vordergrund gestellt zu haben. Winter ist es zu verdanken, dass das Prinzip des entdeckenden Lernens 1985 in den Jahrhundert-Lehrplan von Nordrhein-Westfalen aufgenommen wurde.
Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit. Die Mathematik beruht zwar auf Regeln, die Anwendung dieser Regeln ist aber frei. Man kann sogar sagen, dass die Gewinnung mathematischer Erkenntnisse auf der fantasievollen Anwendung der Regeln beruht.
Natürlich muss die Gültigkeit jeder erfundenen Regel dann noch bewiesen werden. Ein Beispiel: Die Schülerinnen und Schüler sollen eine Zahl zwischen und \( \frac{1}{2} \) und \( \frac{2}{3} \) finden mit dem Hinweis, beide Brüche auf Zwölftel zu erweitern. Eine Schülerin hat den Hinweis überhört und rechnet \( \frac{Zähler+Zähler}{Nenner+Nenner} \) und findet \( \frac{3}{5} \) .
Die didaktischen Zwänge, die von Didaktikern fixiert und von Lehrerinnen und Lehrern nachvollzogen werden, beruhen weniger auf mangelndem psychologisch-didaktischem Verständnis für das Denken von Kindern und weniger auf mangelnder pädagogischer Sensibilität, sondern zuallererst auf mangelnder Einsicht in das wahre Wesen von Mathematik. Nicht nur das Lernen, sondern das Fach wird verfälscht, wenn die in der Mathematik wesenhaft gegebene Freiheit durch fachfremde oder erfundene Zwänge eingeschränkt wird.