Ich hatte bereits die Frage behandelt, was das Wesen der Mathematik sei. Hier geht es um die Frage: Was ist Schulmathematik?
In der Schule ist Mathematik die Beschreibung lebensweltlicher Gegebenheiten durch Terme, Graphen und funktionale Zusammenhänge mit dem Ziel, ein Problem damit seiner Lösung näherzugringen. Um bis zu den Termen vorzudringen, müssen zunächst einmal alle Bestandteile von Termen den SuS nahegebracht (vermittelt) werden: Zuallererst die zum Zählen verwendeten Zahlen, dann erste Operationen mit diesen Zahlen sowie die zugehörigen Rechenzeichen. Sobald erste Operationen mit Zahlen in einem begrenzten Raum natürlicher Zahlen durchgeführt werden, beginnt für viele SuS das Auswendiglernen des Kleinen Einmaleins. An dieser Stelle entfernt sich Schulmathematik vom zuvor geschilderten Wesen der Mathematik. Mathematik besteht eben gerade nicht aus einer Fülle auswendig gelernter Algorithmen, Regeln und Darstellungen. Wer Mathematik erfolgreich betreiben möchte, sollte Begriffe mit einer wachsenden Zahl von Inhalten immer besser verstehen und wissen, warum Regeln und Gesetze der Mathematik gelten. Bezogen auf die elementare Verknüpfung der Multiplikation muss ein guter Mathematikunterricht daran erinnern, dass die Multiplikation nichts anderes ist als die Addition gleicher Summanden. Um nicht immer wieder mit zwei gleichen Summanden beginnen zu müssen, sollte man nur Stützprodukte – wie zum Beispiel die Quadratzahlen – auswendig lernen. Nützlich sind im Zusammenhang des Multiplizierens auch die Operationen des Verdoppelns und des Halbierens.
Sehr viel später im schulischen Curriculum erfolgt dann die Einführung der Platzhalter. Damit sind dann alle Bestandteile eines Terms vermittelt und die mathematische Beschreibung auch komplexer funktionaler Zusammenhänge kann gelingen. Der funktionale Zusammenhang selbst in seiner elementaren Form muss allerdings schon beim allerersten mathematischen Gedanken erkannt worden sein: Die Zuordnung von Quantitäten einer bestimmten Qualität zu Quantitäten einer anderen Qualität (etwa Spielzeugautos zu Spielkameraden). Die eineindeutige Zuordnung ist der elementarste funktionale Zusammenhang und liegt auf dem Wege des Erlernens von Mathematik noch vor dem Erwerb des Zahlbegriffes. Ein Zahlbegriff, der nicht auf eineindeutiger Zuordnung basiert, bleibt unvollständig und führt unweigerlich in große Schwierigkeiten beim Verstehen jeder weiteren Mathematik.
Die Beschränkung der Schulmathematik auf lebensweltliche Zusammenhänge geht ebenfalls an einem Wesenszug der Mathematik vorbei: Nicht nur Georg Cantor sieht das Wesen der Mathematik in ihrer Freiheit und damit ist auch die Freiheit von Anwendung und Praxisbezug gemeint. Unbestritten kann die Mathematik große Dienste im Rahmen unserer Daseinsbewältigung leisten und viele mathematische Themen und Errungenschaften finden hier ihren Ursprung. Aber die Mathematik hat auch dann erhebliche Fortschritte gemacht, wenn ihre Anwendbarkeit nicht im Blick war. Als Rafael Bombelli auf die imaginären Zahlen stieß, wusste er nichts von ihrer heutigen Anwendung in der Wechselstromlehre und als Carl-Friedrich Gauß in der Arithmetik (Zahlentheorie) die Königin der Mathematik sah, kannte er ihre heutige Anwendung in der Kodierungstheorie nicht. Auch die Millenniumsprobleme haben keinen Anwendungsbezug, was sich natürlich ändern kann (siehe Gauß und Bombelli).
Manche Lehrproben angehender Lehrer*innen wollen den SuS einen neuen Begriff vermitteln und sprechen in diesem Zusammenhang von der ‚Einführung eines Begriffes‘. Nur in seltenen Fällen erfasst eine erste Berührung mit dem neuen Begriff bereits seine ganze Tiefe. Die meisten Begriffe werden im Zuge des Mathematiklernens immer weiter vervollständigt und nicht in einer einzigen Stunde eingeführt. Generell kann Schulmathematik kein vollständiges Bild von Mathematik liefern, aber Lehrer*innen sollte Sorge tragen, dass kein schiefes Bild von Mathematik in der Köpfen der SuS angelegt wird. Die begrenzende Ausrichtung auf den Anwendungsaspekt der Mathematik kann leicht Anlass zu einem schiefen Bild von der Mathematik geben.
Die Mathematik-Didaktiker haben bisher keine Einigung über die Ziele des Mathematikunterrichtes erzielen können. Der amerikanische Mathematikprofessor Lynn Arthur Steen (1941 – 2015) hat dazu geschrieben:
„Mathematikdidaktik bearbeitet ein Feld der Unordnung auf dem große Hoffnungen auf eine Erziehungswissenschaft von Komplexität erdrückt und im Meer konkurrierender Theorien ertränkt wurden.“
Nicht einmal auf eine gemeinsame Basis, ein grundlegendes Lernziel konnte man sich einigen, wie etwa das, welches Lisa Hefendehl-Hebeker und unabhängig davon Heinrich Winter formulierten:
„Mathematikunterricht soll erlebbar machen, wie mathematisches Wissen gewonnen wird.“
Das Erlebnis mathematischen Wissensgewinns kann von SuS vor allem dann als besonders befriedigend und motivierend empfunden werden, wenn eine selbständige mathematische Entdeckung gemacht wird. Ein guter Mathematikunterricht gibt dazu immer wieder Gelegenheit, und zwar von der ersten Klasse an. So kann bereits beim Erlernen des Kleinen Einmaleins erkannt werden, dass aˑb=bˑa gilt, auch wenn das an dieser Stelle noch nicht so formuliert wird. Und nach Übergang zum großen Einmaleins kann erkannt werden, dass 12ˑ13=10ˑ13+2ˑ13 gilt. Die genannten Beispiele betreffen die Entdeckung von Eigenschaften der Struktur (N,+,∙) und sind in der Schulmathematik keine Axiome, sondern sollten als evident gelten. Folglich sollten sie nicht auswendig gelernt, sondern erlebt und verinnerlicht werden. Das Erlebnis mathematischen Wissensgewinns kann auch das Erkennen eines Musters in einer geometrischen oder algebraischen Darstellung sein. Die Beschreibung dieses Musters in der Sprache der Mathematik ist allerdings in der Grundschule oft noch nicht möglich, sollte aber in höheren Klassenstufen durchaus geübt werden. Wenn dann diese Beschreibung eine Hypothese betrifft, sollte in geeigneten Fällen anschließend ein Beweis der Hypothese erfolgen.
Beweise führen im Rahmen praktizierten Mathematikunterrichtes eher ein Schattendasein. Wenn sie überhaupt verlangt werden, dann als Reproduktion oder im Transfer auf sehr ähnliche Fälle. Wichtiger als ein formaler Beweis ist aber die Vermittlung einer Einsicht in das ‚Warum‘ wahrer mathematischer Aussagen. Die englischsprachige didaktische Literatur kennt hier den Terminus des ‚proof without words‘ (PWW). Aber auch hier sollte geübt werden, das Evidente in der Sprache der Mathematik zum Ausdruck zu bringen. Der PWW liefert gewissermaßen die Beweisidee in seiner Darstellung gleich mit. Sollte sich keine Beweisidee einstellen, kann ein Wechsel in der Repräsentation der Darstellung sehr nützlich sein. Solche Repräsentationswechsel leisten manche digitalen Werkzeuge auf Knopfdruck. Ein guter Mathematikunterricht leitet SuS dazu an, digitale Werkzeuge zu nutzen
- zum Repräsentationswechsel,
- zum Generieren von Datenmengen zwecks Mustererkennung.
Daneben ist das digitale Werkzeug natürlich auch ein nützlicher Rechenknecht. Aber diese Eigenschaft ist im Rahmen der Lernens von Mathematik bedeutungslos. Um digitale Werkzeuge zum Erlebnis mathematischen Wissensgewinns nutzen zu können, müssen SuS bereits über sehr viel mathematisches Wissen und Können verfügen.