Da es hier auf der Plattform ja bekanntlich die zwei großen Lager "Musterlösungen sind super" und "Musterlösungen sind tabu" gibt, wollte ich an dieser Stelle einfach mal ein paar Tipps für Studenten zur Bearbeitung von Übungsblättern teilen, um noch einmal deutlich hervorzuheben, warum Musterlösungen nicht immer das Mittel der Wahl sind, zumindest nicht für diejenigen, die das Fach ernsthaft studieren. Sicherlich kann auch der ein oder andere Helfer sich dem bedienen, wenn es darum geht, strukturierte und nachvollziehbare Antworten zu posten.
Der Text stammt von Prof. Dr. Manfred Lehn aus dem Jahr 2000 und ist unter https://www.mi.uni-koeln.de/~geiges/uebung-lehn.html aufzufinden. Für diejenigen, die nicht den gesamten Text lesen wollen, fasse ich hier einmal die zentralen Punkte zusammen.
Wie bearbeitet man sinnvoll ein Übungsblatt?
Mathematik fängt überhaupt erst da an, wo man Probleme löst. Dazu muss man das Problem analysieren und damit spielen, um es schließlich mit Phantasie und Sinn für Eleganz und Symmetrie zu lösen. Übungsaufgaben sind der natürliche Weg, diese Fähigkeiten zu erwerben.
Man lernt Mathematik nicht aus Büchern oder Vorlesungen, sondern nur durch Selbermachen.
Und damit auch nicht aus Musterlösungen!
Eine einzige selbständig gelöste Übungsaufgabe ersetzt zehn nachvollzogene Beispiele in einem Lehrbuch! Es gibt keinen anderen Weg, Mathematik zu lernen. Lösen Sie also Übungsaufgaben.
Eine Musterlösung nachzuvollziehen ist also etwas völlig anderes als eine Lösung selbst zu
Die Abschlussklausur soll umgekehrt prüfen, ob Sie gelernt haben, Probleme zu lösen.
Wer nur mit Musterlösungen arbeitet, kann diese Fähigkeit nicht erlangen.
Der eigentliche Lerneffekt entsteht erst dann, wenn Sie Ihren Verstand über das schon Bekannte ein wenig hinausstrecken. Das ist wie im Sport. Übungsaufgaben sind also insbesondere etwas völlig anderes als Schulhausaufgaben. Abschreiben ist zwecklos.
Doch die meisten Aufgaben erwarten, dass Sie über die Lösung nachdenken. Sie können nicht erwarten, dass Sie den richtigen Einfall haben, sobald Sie gerade einmal fünf Minuten oder auch zehn Minuten aufs Blatt gestarrt haben.
Das funktioniert umso besser, indem man auch mal Dinge ausprobiert und Irrwege läuft. Das Nachvollziehen einer Musterlösung zählt allerdings nicht dazu.
Sie müssen auch in sonst verschenkten Minuten [...] über die Aufgaben nachdenken, oder zumindest Ihrem Unterbewußtsein die Möglichkeit dazu geben. Das geht aber nur, wenn Sie die Aufgaben kennen.
Deswegen sollte man sich die Aufgaben nicht erst zwei Tage vor Abgabe anschauen. Das hindert einen daran, auch unterbewusst über Lösungen nachzudenken. Mir kamen viele Ideen gerne mal mitten in der Nacht, wenn ich schlaflos im Bett lag.
Sie können nur dann im Stehen oder Liegen über eine Lösung nachdenken, wenn Sie die Aufgabe formulieren können, ohne aufs Blatt zu schauen. Wohlgemerkt, Sie sollen die Aufgaben nicht auswendig lernen, sondern verstehen.
Deswegen sind Definitionen, Formeln, Begriffe und Notationen, die unklar sind, nachzuschlagen. Man sollte die Aufgabe mit eigenen Worten korrekt wiedergeben können.
Der Lerneffekt ist um so größer, je schwieriger die Aufgabe ist und je länger Sie zur Lösung gebraucht haben. Ein großer Teil des Reizes des Mathematikstudiums liegt in den Erfolgserlebnissen gelöster Aufgaben.
Ganz wichtig. Musterlösungen verhelfen dazu jedenfalls nicht. Wer diesen Ehrgeiz bei der Lösung von Aufgaben nicht besitzt, hat aus meiner Sicht den falschen Studiengang gewählt.
Analyse der Aufgabenstellung
Wiederholen Sie also gegebenenfalls die Definitionen aller vorkommenden Begriffe. Sie müssen in jedem Falle sicherstellen, dass Sie mit diesen Begriffen nicht nur verschwommene Vorstellungen verbinden, sondern präzise Definitionen. [...] Rufen Sie sich also die wesentlichen Eigenschaften der Begriffe in Erinnerung und in welcher Beziehung sie zueinander stehen.
Wenn in der Aufgabe ein allgemeiner Sachverhalt behauptet wird, machen Sie sich an einfachen Beispielen (=Spezialfällen) klar, dass die Behauptung wirklich richtig ist, [...] Wenn man genügend viele Beispiele [...] kennt, so erkennt man häufig auch, warum die Behauptung richtig ist, d.h. findet einen Beweis dafür.
Versuchen Sie, die Aufgabenstellung zu verbildlichen. Reelle Funktionen kann man zeichnen.
Überlegen Sie, welche Beweismethoden in der Vorlesung im Zusammenhang mit den Begriffen aus der Aufgabe vorkamen.
Ein anderer möglicher Trick ist, die zu beweisende Behauptung anzuzweifeln. Um sie zu widerlegen, würde es genügen, ein Gegenbeispiel zu konstruieren.
Versuchen Sie auf vielen verschiedenen Wegen an die Lösung heranzukommen.
Damit ist nicht der Aufwand zum Auffinden einer Musterlösung gemeint!
Reden Sie über die Aufgaben!
Grundsätzlich gilt: Man soll möglichst viel über Mathematik reden. [...]
In jedem Falle gilt, dass Sie vorher nachgedacht haben müssen, wenn das Gespräch nutzen soll:
Das gilt genauso für diese Plattform. Hilfe ist umso zielführender, je mehr man sich mit der Aufgabe bereits auseinandergesetzt hat. Entsprechende Ansätze und Gedanken sollten daher stets mitgeteilt werden.
Ebenso ist es nur dann sinnvoll, über Lösungsansätze zu reden, wenn Sie schon Lösungsansätze durchdacht haben, aber vielleicht in einer Sackgasse gelandet sind. [...] Andernfalls geht Ihnen das Aha-Erlebnis und damit der Zweck der Aufgabe verloren.
Auch dann, wenn man sich nur eine Musterlösung anschaut und ggf. abschreibt.
Gruppenarbeit kann bei der Bearbeitung der Aufgaben sinnvoll sein [...] Insbesonder heißt das nicht, dass Sie sich Lösungen erklären lassen sollen. Das können Sie natürlich tun, wenn Sie sich darüber im Klaren sind, dass mindestens die Hälfte des Übungseffektes dabei verloren geht. Wenn Sie schon eine Lösung haben, kann es sehr lehrreich sein, die eigene Lösung der Kritik anderer auszusetzen oder zu sehen, wie andere dasselbe Problem angehen.
Der Konsum einer Musterlösung sollte also voraussetzen, dass man zumindest schon selbst eine Lösung oder einen Ansatz erarbeitet hat.
Der Moment des Aufschreibens
Es gibt bei schriftlichen Lösungen zwei Extreme, die beide wenig zufriedenstellend sind. Das eine Extrem ist eine reine Rechnung ohne argumentierenden oder kommentierenden Text. Das andere Extrem ist der Roman, der um das Problem herumredet. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
Eine Lösung zu einer Aufgabe besteht aus einem umgangssprachlichen schriftlichen Text in deutscher Sprache. Deutsch steht hier nicht im Gegensatz zu Englisch oder Russisch, sondern im Gegensatz zu Mathsprech oder irgendeiner anderen korrumpierten Kommunikationsform. Ihre Argumentation soll formaler Strenge genügen, nicht die Sprache. Schreiben Sie gute Prosa.
Ihr Text soll also aus ganzen Sätzen bestehen. Jeder Satz enthält ein Subjekt und ein Prädikat. Vermeiden Sie Ketten von logischen Symbolen. Vermeiden Sie aber auch umständliche verbale Umschreibungen, wenn es dafür eine konzise Symbolik gibt. Hier ist die Vorlesung nicht immer Vorbild!
Das ist ein Punkt, den sollte sich der ein oder anderen Helfer vielleicht mal zu Herzen nehmen. :)
Mit der Zeit werden Sie Ihren eigenen Stil entwickeln. Das gelingt nur, wen Sie sich mit den Aufgaben Mühe geben und Ihre Lösungen wirklich als Texte auffassen [...] Sie sollen so schreiben, dass ein nichtwissender Leser die Lösung versteht.
Ihre Aufgaben müssen in einer lesbaren Handschrift geschrieben sein, Formeln und Symbole sollten sorgfältig und sauber ausgeführt sein.
Sorgfalt ist eine wichtige Eigenschaft!
Wenn Sie einen guten Übungsgruppenleiter haben, wird er auch bei richtigem Ergebnis nicht einfach einen Haken plazieren, sondern rigoros Ihren Stil korrigieren. Das erste Studienjahr hat unter anderem die Aufgabe, Ihnen Lesen und Schreiben beizubringen.
Das kann ich so aus eigener Erfahrung bestätigen. Gerade in den ersten Semestern wird an allen Ecken und Enden gemäkelt. Nicht ohne Grund!
Geben Sie niemals die erste Version Ihrer Niederschrift ab. Fertigen Sie in jedem Falle mindestens eine saubere Abschrift Ihrer Lösungen an.
Ich hoffe, dass vielleicht der ein oder andere einen positiven Nutzen aus den Ausführungen des Prof. Lehn ziehen kann.
Habt ein gutes und sonniges Wochenende!