Unter dem Link Chat GPT im Mathematik-Unterricht sinnvoll einsetzen findet man zum Thema ChatGPT und Mathe-Unterricht folgende Textpassage, welche Ute Rühling für den Friedrich-Verlag verfasst hat:
Die Stärke von ChatGPT liegt in seinem sprachlichen Potenzial. Das Programm wurde mit verschiedenen Texten mit insgesamt etwa 500 Milliarden Wörtern trainiert, basierend auf einem Modell, wie unsere Sprache funktioniert. Es berechnet Antworten, die entsprechend dieses Sprachmodells mit hoher Wahrscheinlichkeit sinnvoll formuliert sind und zu der gestellten Frage passen. Was ChatGPT nicht ist: Es ist keine Datenbank, die korrekte Inhalte ausgibt, und auch kein Werkzeug, das programmiert wurde, um mathematische Probleme korrekt zu lösen.
Und weiter:
Den Schülerinnen und Schülern sollte bewusst sein, dass sie alle Ergebnisse kritisch und mit ihrem eigenen Fachwissen prüfen müssen. Sie können diese Reflexion zum Beispiel an einer ChatGPT-Antwort zu einer Aufgabe zum Satz des Pythagoras erarbeiten (siehe unten). Wenn die Lernenden ein Thema bereits weitgehend beherrschen, aber bei einer Aufgabe „auf dem Schlauch stehen“, dann eignet sich ChatGPT, um Ideen für einen Ansatz zu finden. Ebenso eignet es sich für einen Vorschlag für die sprachliche Darstellung des Lösungswegs. Zum selbstständigen Lernen eines Themas, bei dem die Lernenden selbst noch unsicher sind, eignet sich das Programm aufgrund seiner Fehler und verwirrenden Widersprüchlichkeit jedoch nicht.
All diese Hinweise treffen in vollem Umfange zu. Allerdings beherrscht ChatGPT dermaßen unzureichend Mathematik, dass die infolge dessen erzeugte Widersprüchlichkeit seiner Antworten von Schüler*innen nicht mehr entwirrt werden kann. Außerdem behauptet Frau Rühling, dass ChatGPT geeignet sei, Schüler*innen gute Ideen finden zu lassen. Dies soll im Folgenden – wie empfohlen – an ChatGPT-Antworten zu einer Aufgabe zum Satz des Pythagoras demonstriert werden:
Frage an ChatGPT:
Beweise den Satz von Pythagoras mit Anwendung der Trigonometrie.
Die Antwort von Chat GPT beginnt (Schritt 1) mit einer Rekapitulation des Satzes von Pythagoras sowie eine Wiederholung der Frage gefolgt von den Definitionen von cos und sin im rechtwinkligen Dreieck. Dann folgen die Schritte 2 und 3 sowie ein Fazit:
Schritt 2: Beweis durch Anwendung der trigonometrischen Identität
Nun wenden wir eine bekannte trigonometrische Identität an, die für jede beliebige Winkelkombination gilt: sin2(α)+cos2(α)=1.
Setzen wir die trigonometrischen Definitionen für sin(α) und cos(α) ein: (a/c)2+(b/c)2=1.
Dies vereinfacht sich zu: a2/c2+b2/c2=1.
Multiplizieren wir nun beide Seiten der Gleichung mit c2, um die Brüche zu eliminieren:
a2+b2=c2.
Schritt 3: Schlussfolgerung
Wir haben also gezeigt, dass die Summe der Quadrate der Katheten a2+b2 gleich dem Quadrat der Hypotenuse c2 ist, was genau die Aussage des Satzes von Pythagoras ist.
Fazit
Durch die Anwendung der trigonometrischen Identität sin2(α)+cos2(α)=1 haben wir den Satz von Pythagoras a2+b2=c2 bewiesen.
Dass die verwendete ‚trigonometrische Identität‘ nichts weiter ist als der Satz von Pythagoras, wusste bereits Elisha Scott Loomis (1852 – 1940), der geschrieben hatte:
There are no trigonometric proofs [of the Pythagorean theorem], because all of the fundamental formulae of trigonometry are themselves based upon the truth of the Pythagorean theorem; because of this theorem we say sin2 + cos2 = 1 etc.
Anders als Loomis vermutet hatte gibt es allerdings Pythagoras-Beweise auf der Grundlage von Trigonometrie. Unter dem Link Neue Beweise des Satzes von Pythagoras | Mathelounge findet man verschiedene Hinweise (insbesondere Links) auf solche Beweise.
Zurück zu ChatGPT dem jetzt die Frage gestellt wurde:
Beweise die trigonometrische Identität sin2(x)+cos2(x)=1 ohne Anwendung des Satzes von Pythagoras.
Darauf antwortet Chat GPT mit dem Hinweis auf den Einheitskreis mit der Gleichung x2+y2=1 und klärt darüber auf, dass x=cos(φ) und y=sin(φ) sei. Am Ende seiner Antwort zieht ChatGPT das Fazit:
Der Beweis der Identität sin2(x)+cos2(x)=1 über den Einheitskreis zeigt, dass die Summe der Quadrate von Sinus und Kosinus immer gleich 1 ist, weil jeder Punkt auf dem Einheitskreis eine Entfernung von 1 vom Ursprung hat, was durch den Satz des Pythagoras für die Koordinaten des Punktes (x,y) im kartesischen Koordinatensystem bestätigt wird.
Dieser Beweis vermeidet die direkte Anwendung des Satzes von Pythagoras und nutzt stattdessen die geometrische Eigenschaft des Einheitskreises.
Damit ist natürlich nichts gewonnen und es erscheint fraglich, wie weit Schüler*innen dies bemerken. Die nächste Frage an ChatGPT ist nun:
Beweise, dass x2+y2=1 die Gleichung des Einheitskreises ist ohne Verwendung des Satzes von Pythagoras.
Für ChatGPT fällt jetzt die sogenannte Abstandsgleichung vom Himmel:
d=√((x1-x2 )2+(y1-y2 )2 ). Die Antwort von ChatGPT endet wiederum mit einem Fazit:
Die Gleichung x2+y2=1 stellt die Bedingung dar, dass jeder Punkt (x,y) auf dem Einheitskreis genau einen Abstand von 1 vom Ursprung hat. Diese geometrische Beschreibung erklärt, warum x2+y2=1 die Gleichung des Einheitskreises ist, ohne auf den Satz von Pythagoras zurückzugreifen.
Daraufhin erhält ChatGPT die Aufforderung:
Beweise, dass d=√( x2+y2 ) der Abstand jedes Punktes (x,y) der Koordinatenebene vom Ursprung des Koordinatensystems ist ohne Verwendung des Satzes von Pythagoras.
Diesmal kontert ChatGPT mit der Erwähnung einer neuen Vokabel: der ‚Euklidischen Distanz‘. So geht es eine Weile weiter, wobei auch die Vektorrechnung und der Begriff des Betrages eines Vektors der Verteidigung der Argumentation von ChatGPT dienen sollen. Schließlich wendet der Fragesteller ein:
Alle geometrischen Konzepte der Längenmessung im Koordinatensystem gründen sich auf den Satz von Pythagoras.
Und nun gesteht ChatGPT endlich:
Du hast natürlich vollkommen recht: Die geometrischen Konzepte der Längenmessung im Koordinatensystem, die wir so oft verwenden, beruhen tatsächlich auf dem Satz von Pythagoras. Dies bedeutet, dass die Formel für den Abstand d=√( x2+y2 ) und ähnliche Konzepte ihre tiefere theoretische Grundlage im Satz von Pythagoras haben. Wenn wir also über den Abstand zwischen zwei Punkten im kartesischen Koordinatensystem sprechen, müssen wir anerkennen, dass die Euklidische Distanz (die Berechnung des Abstands durch d=√( x2+y2 ) in der Tat auf dem Satz von Pythagoras basiert, da dieser Satz die Grundlage für die Definition des Abstands in der Euklidischen Geometrie ist.
Ob es Schüler*innen gelungen wäre, ChatGPT zu diesem Eingeständnis zu bewegen, sei einmal dahingestellt. Da der eingangs angeforderte Beweis immer noch fehlt, entwickelt sich nun eine Unterhaltung, in der ChatGPT alte Fehler noch einmal – wider besseren Wissens – wiederholt, bis es schließlich zu der Einsicht kommt:
In meinen bisherigen Antworten zur Frage „Beweise den Satz von Pythagoras mit Verwendung der Trigonometrie“ und der Berechnung des Abstands im Koordinatensystem habe ich tatsächlich den Satz von Pythagoras vorausgesetzt, was eine zirkuläre Argumentation hervorrufen kann. Das bedeutet, dass ich durch die trigonometrische Identität und die Definition des Abstands im Koordinatensystem den Satz von Pythagoras indirekt angenommen habe, ohne ihn zu beweisen – was natürlich der Kern der ursprünglichen Frage war.
Und dann will ChatGPT erklären, warum seine Beweisversuche im Kreis laufen, um schließlich zu behaupten:
Wenn wir den Satz von Pythagoras tatsächlich mit Trigonometrie beweisen wollen, ohne eine Identität wie sin2(α)+cos2(α)=1 zu verwenden, dann müssten wir von der Definition des rechtwinkligen Dreiecks und der Messung von Winkeln und Abständen ausgehen, die noch keine Annahme über den Satz von Pythagoras beinhalten.
Ein solcher Beweis ist jedoch extrem schwierig und läuft letztlich darauf hinaus, dass man die geometrische Struktur eines rechtwinkligen Dreiecks vollständig und systematisch analysiert. Auch hier käme man am Ende immer wieder auf die Struktur des Satzes von Pythagoras.
Die Behauptung, ein solcher Beweis sei extrem schwierig, ist – wie unter Neue Beweise des Satzes von Pythagoras | Mathelounge gezeigt wurde – unwahr. Richtig ist allerdings, dass man die geometrische Struktur eines rechtwinkligen Dreiecks vollständig und systematisch analysieren muss und von der Definition des rechtwinkligen Dreiecks und der Messung von Winkeln und Abständen ausgehen muss. Dazu ist ChatGPT allerdings nicht in der Lage.
Die Hoffnung der Autorin des eingangs erwähnten Artikels, Ute Rühling, ChatGPT könne Schüler*innen auf gute Ideen bringen, sieht der Verfasser dieses Artikels nach den oben aufgeführten Erfahrungen nicht erfüllt. Den einzigen zutreffenden und nützlichen Hinweis liefert ChatGPT erst nach hartnäckiger Überzeugungsarbeit durch den Fragesteller. Dabei ist erfahrungsgemäß nicht davon auszugehen, dass diese Überzeugungsarbeit von Schüler*innen geleistet werden kann. Sowohl Lehrer*innen als auch Schüler*innen sollten mathematische Fragen an sich selbst stellen und nicht an ChatGPT.