Für den mathematischen Wissenserwerb haben Schüler*innen drei Möglichkeiten:
1. Sie nehmen fertiges Wissen an oder erlernen es wie Vokabeln einer Fremdsprache (üben, üben, üben).
Beispiele für derartiges Wissen sind das kleine Einmaleins, die binomischen Formeln oder die Lösungsformel für eine quadratische Gleichung. Vorteil eines solchen Wissens ist die unmittelbare Verfügbarkeit in komplexen Lösungswegen.
2. Sie gewinnen das erforderliche Wissen selbständig.
Der selbständige Wissenserwerb ist nicht immer möglich. Das entdeckende Lernen stößt allein deshalb an Grenzen, weil man von Schüler*innen nicht verlangen kann, alle Sätze und Gesetze der Mathematik selbständig entdecken zu lassen, welche über Jahrtausende gefunden wurden. Aber Anlässe zu Entdecken und Beweisen sollte Mathematikunterricht dennoch geben.
3. Sie verfügen über Wissen, das sich zwar einem kritischen Verstand nicht unmittelbar erschließt, welches aber akzeptiert werden musste, um weiter mitreden oder mitdenken zu können.
Beispiele sind das Wissen bezüglich des Differentials, das Wissen zu Ereignissen mit der Wahrscheinlichkeit Null oder das Wissen über endliche Summen mit unendlich vielen Summanden sowie das Wissen über nicht abbrechende nicht periodische Dezimalzahlen.
Bei der Durchsicht von Lehrbüchern oder der Sichtung gedruckten Übungsmaterials stellt man fest, dass der Wissenserwerb nach Methode 1. deutlich überwiegt. Wissenserwerb nach Methode 2. ist so gut wie gar nicht in Lehrbüchern oder Übungsmaterialien zu finden. Wissen, welches einfach akzeptiert werden muss, kann nicht von Schüler*innen selbständig entdeckt werden und auch nicht - wie bei Steinbring - Thema eines entdeckenden Lernens sein. Es erforderte in der Geschichte der Mathematik großer Denker, welche die Akzeptanz der unter 3. genannten Beispiele unter den Mathematikern förderten.
Ein Mathematikunterricht, der das Erlebnis selbständigen Wissensgewinns vermitteln möchte, sollte den Schüler*innen allerdings auch Aufgaben stellen, die zum Entdecken anregen. Werkzeuge der Erkenntnisentwicklung sind insbesondere die Mustererkennung und der Repräsentationswechsel. Helfen kann darüber hinaus auch ein Wissen über heuristische Strategien und Prinzipien sowie ein Erwerb grundlegender Begriffe. Ein selbständiger Wissensgewinn erfordert von Lehrer*innen eine wohlüberlegte Planung und von Schüler*innen ausreichendes Vorwissen, Kreativität und Hartnäckigkeit.
Beispiel für eine Aufgabe gemäß 2.:
Formuliere eine Entdeckung im Muster dieser Wertetabelle und beweise diese:
m | Potenz von a in Abhängigkeit von m | Summe Teiler einer Potenz von a in Abhängigkeit von m |
0 | 125 | 1 |
1 | 625 | 6 |
2 | 3125 | 31 |
3 | 15625 | 156 |
4 | 78125
| 781 |
5 | 390625 | 3906 |
6 | 1953125 | 19531 |
7 | 9765625 | 97656 |
8 | 48828125 | 4488281 |
Eine Reihe von Arbeitsheften für die Sekundarstufe mit dem Titel ‚Dreifach Mathe‘ bietet auf drei Lernniveaus Aufgaben zu Themen der Mittelstufe an. Die anspruchsvollen Lernstufen mit den Inhalten ‚Entdecken ‘ oder ‚Beweisen‘ sind nicht darunter. Erstaunlicherweise wurde dieses Mathematik-Lehrwerk, als „bestes europäisches Lernmaterial“ prämiert. Die Jury geht offenbar ebenso wie viele Schulbuchautoren oder Verfasser von Lehrmaterial davon aus, dass das Lernen von Mathematik dem Erlernen einer Fremdsprache bzw. geografischer oder historischer Fakten entsprechen müsste.