Das Thema Kunst und Mathematik erfordert ein enzyklopädisches Werk, das wohl von einer einzigen Person gar nicht zu leisten ist. Alle Versuche, die bisher unternommen wurden einiges zur Beziehung zwischen Mathematik und Kunst zusammenzutragen (z.B. Karl Menninger: Mathematik und Kunst, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1959 oder Jürgen Flachsmeyer: ‚Über Kunst und ihre Beziehung zur Mathematik‘, erschienen 2020 im Selbstverlag) bleiben unvollständig. Sie berühren jeweils nur ausgewählte Aspekte dieses großen Themas. Das wird in diesem Aufsatz nicht anders sein.
Kunst und Mathematik haben eine gemeinsame schöpferische Quelle: die Intuition. Und es gibt weitere Wesensverwandtschaften. Für Georg Cantor liegt das Wesen der Mathematik in der Freiheit und damit auch und gerade in der Freiheit der Mathematik von ihrer Anwendbarkeit. Wenn Rafael Bombelli nach einer Zahl suchte, deren Quadrat –1 ist, tat er dies, weil etwas in der Frage, über die er nachdachte, ihn dazu trieb, und nicht, weil komplexe Zahlen in der Wechselstromlehre schöne Anwendungen haben. Als Carl Friedrich Gauß bekannte, dass er die „Arithmetik“ (Zahlentheorie) für die „Königin der Mathematik“ halte, wusste er nichts von den heutigen Anwendungen in der Kryptographie. Und wenn man einen Künstler fragt, was ihn zur Schaffung seines Kunstwerkes veranlasst hat, so antwortet er sicher nicht mit einem Hinweis auf die Anwendbarkeit. Mathematik wird vor allem wegen ihrer universellen Anwendbarkeit betrieben. Das lenkt den Blick ab von einer ihrer bedeutenden Wesensarten: der Freiheit. Natürlich sind große Kulturleistungen der Menschheit oft auch aus dem Wunsch nach Anwendung entstanden. Aber man sollte nicht unerwähnt lassen, dass beeindruckende Kulturleistungen gerade dann möglich wurden, wenn der Aspekt der Anwendbarkeit bedeutungslos war.
Um Beziehungen zwischen Kunst und Mathematik identifizieren zu können, beginnen wir mit einer Aufzählung der Bereiche, die wir dem Begriff ‚Kunst‘ zu zuordnen wollen. Natürlich kann auch diese Liste nicht vollständig sein. Zur Kunst gehören vor allem die Dichtung, die bildende Kunst und die Musik. Unter ‚Dichtung‘ seien auch Werke von Schriftstellern eingeordnet. Zur bildenden Kunst werden die Gebiete Architektur, Bildhauerei, Malerei und Grafik gezählt. Zur Musik zählen sowohl ihre Schöpfung als auch ihre Wiedergabe.
Der große deutsche Dichter, Johann Wolfgang von Goethe hat sich zur Mathematik so geäußert: „Die Mathematik steht ganz falsch im Rufe, untrügliche Schlüsse zu liefern. Ihre ganze Sicherheit ist weiter nichts als Identität. Zwei mal zwei ist nicht vier, sondern es ist eben zwei mal zwei, und das nennen wir abkürzend vier. Vier ist aber durchaus nichts Neues. Und so geht es immer fort bei ihren Folgerungen, nur dass man in den höheren Formeln die Identität aus den Augen verliert.“
Goethes Satz „Ihre ganze Sicherheit ist weiter nichts als Identität“ enthält Zutreffendes. Die Mathematik als Ganzes ist ein Darstellungssystem, innerhalb dessen sehr oft Gleichwertiges aneinander gekettet wird, um zu einer neuen Aussage zu gelangen (Stichwort: äquivalente Umformung).
Wenn Goethe sagt: „Und so geht es immer fort bei ihren Folgerungen, nur dass man in den höheren Formeln die Identität aus den Augen verliert“ unterschlägt er genuin kreative Gedanken von Mathematikern. Um diese nachträglich zu untermauern, bleibt gar nichts anderes übrig, als Identitäten (besser: logisch gleichwertiges) aneinander zu ketten. Genau das ist Mathematik.
In Goethe ‚Faust‘ wird dem ‚Hexeneinmaleins‘ gerne mathematische Bedeutung zugeschrieben. Dabei wird oft vermutet, es ginge im Hexeneinmaleins um eine Anweisung zur Herstellung eines magischen Quadrates. Wer mehr dazu wissen will, dem sei das oben genannte Buch (Flachsmeyer, 2020) empfohlen.
August Strindberg hat zur Mathematik diesen Beitrag geliefert:
„1·1 = 1, unzweifelhaft. Aber 12 ist nicht 1, weil das Quadrat einer gegebenen Zahl größer sein muss als die Zahl selbst. Die Wurzel aus 1 kann logischerweise nicht 1 sein, weil die Wurzel aus einer Zahl kleiner sein muss als die Zahl selbst. Aber mathematisch oder formal ist √1=1. Die Mathematik widerspricht in diesem Falle der Logik oder der reinen Vernunft, und darum ist die Mathematik in diesem Kardinalfalle vernunftwidrig. Auf dieser Sinnlosigkeit, der 1, bauen sich dann alle Werte auf, und in diesen falschen Werten fußt die mathematische Wissenschaft. Ein artiges Spiel für Leute, die nichts zu tun haben.“
Schon die Prämissen „das Quadrat einer Zahl muss größer sein, als die Zahl selbst“ und „die Wurzel einer Zahl muss kleiner sein, als die Zahl selbst“ entspringen einer Logik, die von Strindberg für vernünftig gehalten wird, ohne die eigene Vernunft zu hinterfragen. Es ist ja nicht nur die 1, die beim Quadrieren nicht größer wird, sondern alle Zahlen von 0 bis 1 einschließlich. Überhaupt ist das k-fache einer positiven Zahl z kleiner als z für 0<k<1.
Strindbergs Äußerung gibt Anlass zu der Vermutung, dass einige Dichter und Schriftsteller ein sehr gespaltenes Verhältnis zur Mathematik haben. Dem sei mit Christian Morgensterns Gagenlied ein erfrischendes Beispiel entgegengehalten:
Das Problem
Der Zwölf-Elf kam auf sein Problem
und sprach: "Ich heiße unbequem.
Als hieß′ ich etwa Drei-Vier
statt Sieben - Gott verzeih mir!"
Und siehe da, der Zwölf-Elf nannt´ sich
von jenem Tag ab Dreiundzwanzig.
Außer den (hier) explizit genannten Zahlen hat ein Gedicht ein Versmaß. Das Versmaß von Gedichten folgt einem Muster. Dieses Muster kann erkannt werden und Mustererkennung ist eine wichtige mathematische Tätigkeit. Sicher gibt es viele weitere Dichter und Schriftsteller die sich entweder über Mathematik geäußert oder Texte verfasst haben, die mathematische Ausdrücke enthalten. Eine vollständige Auflistung soll hier nicht versucht werden. Stattdessen wenden wir uns den Malern zu.
Von Albrecht Dürer stammt das Gemälde ‚Melencolia I‘, das übervoll mit mathematischen Objekten ist und zu dem Interpreten nicht müde wurden, mathematische Prinzipien der dargestellten Objekte und ihrer Position im Bild zu finden. Albrecht Dürer veröffentlichte 1525 sein Buch 'Underweysung der messung mit dem zirckel un richtscheyt', das die erste Zusammenfassung der mathematisch-geometrischen Verfahren der Zentralperspektive darstellte und damit auch die Grundlagen der perspektivischen Konstruktionsverfahren als Teilbereich der Darstellenden Geometrie bildet. Genaueres hierzu findet man ebenfalls bei Flachsmeyer.
Leonardo da Vinci war Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph und gilt als einer der berühmtesten Universalgelehrten aller Zeiten. Von ihm stammen mehrere Bilder mit Bezug zur Mathematik. (z.B. Mona Lisa, Das Abendmahl, Vitruvianischer Mensch) Leonardo verwendete den goldenen Schnitt als Stilmittel der Ästhetik seiner Bilder. Näheres hierzu findet man wiederum bei Flachsmeyer.
Da es unmöglich ist, alle Maler zu nennen, die einen Bezug zur Mathematik in ihren Werken erkennen ließen, sei wenigstens noch M.C. Escher genannt, der zum Beispiel aus mathematischen Parkettierungen lebendig wirkende Lebewesen heraussteigen lässt.
Unter den darstellenden Künsten mit Bezug zur Mathematik muss vor allem die Baukunst genannt werden und hier die sakralen Bauten des Mittelalters. Deren Bögen und Kreisformen wurden nach strengen mathematischen Regeln entworfen wobei deren Proportionen oft dem goldenen Schnitt genügten. Besonders in der Gotik hat sich der Baumeister und Bildhauer Rorizer hervorgetan. Mehr über die Gotik findet man wiederum bei Flachsmeyer. Nicht unerwähnt bleiben soll die Tatsache, dass bereits Bauwerke der Antike nach Prinzipien des goldenen Schnittes entworfen wurden.
Wenigstens ein moderner Architekt soll die unvollständige Liste der Baumeister abschließen: Richard Buckminster-Fuller. Seine grandiosen Konstruktionen – Dymaxion genannt – erzielen mittels Zug und Druck hohe Stabilitäten bei gleichzeitig filigranem Aussehen.
Zum Schluss etwas zur Musik. Schon die Pythagoreer entdeckten eine Verbindung zwischen Mathematik und Musik. Platon bezeichnete die Pythagoreer als Urheber der musikalischen Zahlenlehre, sein Schüler Xenokrates schrieb die entscheidende Entdeckung Pythagoras selbst zu. Dabei ging es um die Darstellung der harmonischen Intervalle durch einfache Zahlenverhältnisse. Das konnte durch Streckenmessung veranschaulicht werden, da die Tonhöhe von der Länge einer schwingenden Saite abhängt. Für entsprechende Versuche eignete sich das Monochord mit verstellbarem Steg.
Erwähnt werden sollen auch die Einteilung der Noten nach ihrer Länge und die Unterteilung von Kompositionen in Takte. Darin steckt elementare Bruchrechnung. Von Leibniz ist die Aussage überliefert: „Die Musik ist eine Übung in der Zahlenlehre, ein Akt des Geistes, der gar nicht merkt, dass er in Zahlen denkt.“ Komponisten stellten fest, dass einzelne Takte (unter Beachtung einer Harmonielehre) in beliebiger Reihenfolge einen ästhetischen Gesamteindruck vermitteln konnten. Die Reihenfolge konnte zum Beispiel mit einem Würfelspiel generiert werden. Die ‚Musikalischen Würfelspiele‘ kamen zum Ende des 18. Jahrhunderts in Europa auf und galten als beliebter Zeitvertreib. Von dem Komponisten und Musiktheoretiker Johann Philipp Kirnberger stammt die wohl älteste Methode zum Komponieren mit Hilfe von Würfeln. Das bekannteste derartige Würfelspiel wird Wolfgang Amadeus Mozart zugeschrieben und trägt den Titel: „Anleitung zum Componieren von Walzern vermittels zweier Würfel“. Bei der überwiegenden Zahl der ‚Musikalischen Würfelspiele‘ ist es das Ziel, ein gleichförmig und periodisch ablaufendes Musikstück zu erzeugen. Es handelt sich daher meist um Walzer, Polonaisen oder Menuette mit sehr schematischem harmonischem Aufbau. Aufbauend auf einer Grundkomposition wurden mehrere Variationen eines Themas komponiert. Anhand einer Zufallszahl wird ermittelt, welcher Takt aus welcher Variation zu spielen ist.
Abschließend sei noch Johann Sebastian Bach erwähnt, der sich als Meister im Einbetten mathematischer Figuren in seine Partituren erwies. Offensichtlich war er auf der Suche nach den harmonischen Wirkungen bestimmter Rechenregeln.