Bildungspolitik wird nicht mehr vom Bildungsideal des Wilhelm von Humboldt bestimmt, sondern von den Zielen der OECD. Unter dem Link: http://www.oecd.org/berlin/dieoecd/ finden wir auf der ersten Seite dazu Folgendes:
Das Ziel der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development, OECD) ist es, eine Politik zu befördern, die das Leben der Menschen weltweit in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht verbessert.“
Und einige Zeilen später stellt die OECD die Frage:
Statten die Schulsysteme einzelner Länder unsere Kinder mit dem Wissen aus, das sie brauchen, um sich in modernen Gesellschaften zu behaupten?
Das Wissen, das Heranwachsende brauchen, „um sich in modernen Gesellschaften zu behaupten“, soll aber nicht notwendigerweise zu Urteilsfähigkeit und Eigenverantwortung befähigen, sondern insbesondere dazu‚ „das Leben der Menschen weltweit in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht [zu] verbessern“. Hier deutet sich ein Paradigmenwechsel im Ziel von Bildung an.
Deutlicher wird das nach Lektüre der Bildungsstandards im Fach Mathematik für die Allgemeine Hochschulreife (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012, PDF).
Die Bildungsstandards präzisieren für den Bereich der Mathematik, was schulische Bildung bezwecken soll. Es geht um den Erwerb folgender Kompetenzen:
- Mathematisch argumentieren (K1)
- Probleme mathematisch lösen (K2)
- Mathematisch modellieren (K3)
- Mathematische Darstellungen verwenden (K4)
- Mit symbolischen, formalen und technischen Elementen der Mathematik umgehen (K5)
- Mathematisch kommunizieren (K6).
Eine wohlwollende Interpretation dieser Aufzählung erlaubt, darin alles wiederzufinden, was auch schon Ende des vergangenen Jahrtausends Ziel des Mathematikunterrichtes war. Das Wesen der Mathematik kommt darin allerdings nicht zu Ausdruck. Auch das von Lisa Hefendehl Hebeker formulierte Postulat, Mathematikunterricht solle erlebbar machen, wie mathematische Wissensbildung geschieht, wird durch die genannten Kompetenzen nicht explizit widergegeben.
Man kann die Kompetenzen K1 bis K6 auch kritisch betrachten und die Frage der OECD im Hinterkopf behalten: „Statten die Schulsysteme einzelner Länder unsere Kinder mit dem Wissen aus, das sie brauchen, um sich in modernen Gesellschaften zu behaupten?“ Dann gewinnt man den Eindruck, Mathematikunterricht solle in erster Linie dazu befähigen, sich in unserer Gesellschaft zu behaupten. Und dies heißt, Mathematikunterricht soll in die Lage versetzen, berufliche und alltägliche Fragen zu beantworten. Auf einen Einblick in das Wesen der Mathematik und das Erlebnis mathematischer Wissensbildung könne man verzichten.
Mathematik kann aber von Schülerinnen und Schülern nur dann verstanden und beherrscht werden, wenn sie über folgende Kompetenzen verfügen:
- Muster erkennen, abstrahieren und beschreiben.
- Präsentationsformen kennen und zwischen ihnen wechseln können.
- Begriffsvorstellungen altersgemäß entwickeln.
- Regeln und Sätze kennen und herleiten oder beweisen; Gesetze kennen und anwenden können.
- Die Sprache der Mathematik sprechen und verstehen, ihre Zeichen lesen und schreiben können.
Diese Kompetenzen kann man in die Bildungsstandards der KMK durchaus hineininterpretieren. Dass sie aber explizit nicht formuliert werden, muss skeptisch machen.