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Der amerikanische Didaktiker Lynn Arthur Steen (1941 – 2015) schrieb: „Mathematikdidaktik bearbeitet ein Feld der Unordnung, ein Feld, auf dem große Hoffnungen auf eine Erziehungswissenschaft von Komplexität erdrückt und in einem Meer konkurrierender Ideen ertränkt wurden.“ Es ist aber noch schlimmer: Viele Didaktiker drücken ihre konkurrierenden Ideen auch noch missverständlich aus. Die erdrückende Komplexität der Didaktik wird auf diese Weise unerträglich. Nach Bruner (siehe: Die Brunersche Repräsentationstheorie und die Semiotik | Mathelounge) und Freudenthal (siehe: Freudenthals 'Klassifizierung von Variablen' | Mathelounge) kommt auch von Glasersfeld an diesem Vorwurf nicht vorbei. Er schreibt:

„Vom konstruktivistischen Gesichtspunkt aus ist Wissen immer nur in Köpfen und muss dort von jedem einzelnen Lerner aufgebaut werden. Es lässt sich weder mündlich noch schriftlich vom Kopf des Lehrers in den Kopf des Schülers übertragen.“


Das kann so nicht stimmen und wenn es stimmte, würde die ‚mathelounge‘ keinem Fragesteller zu Wissen verhelfen. Die meisten Fragesteller wissen nach Lektüre der Antwort mindestens die Antwort auf ihre Frage und – wenn es gut läuft – auch den Weg dorthin. Leseratten wüssten, falls Glasersfeld in jedem Fall von Wissenserwerb recht hätte, nach dem Lesen eines Buches nichts über den Inhalt. Nach Glasersfeld gibt es kein ‚Lehrbuch‘.
Reines Faktenwissen kann schriftlich in den Kopf von SuS übertragen werden. Aber auch das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten kann über das Lesen beispielsweise einer Zahlenfolge geschehen, die ein Lehrer oder ein Lehrbuch aufgeschrieben hat. Allerdings ist hier eine kognitive Eigenleistung der SuS erforderlich. Diese basiert auf Vorwissen ergänzt durch Leistungen, wie ‚Schlussfolgern‘. In den Köpfen von SuS die nur über wenig Vorwissen verfügen und/oder nicht schlüssig denken können, wird kaum ein Lehrer weitergehendes Wissen aufbauen können.


Es ist anzunehmen, dass Glasersfeld bei seiner Formulierung an Wissenserwerb als kognitive Leistung gedacht hat und nicht an Erwerb von Faktenwissen. Aber selbst in diesem Falle kann bereits das Lesen der Niederschrift eines Lehrers Wissen im Kopf von SuS erzeugen. Der Lehrer ist erst dann unverzichtbar, wenn Lesen allein nicht zur Erkenntnis führt.


Als Didaktiker spricht Glasersfeld insbesondere Lehrer an, denen er vermutlich Hinweise zu ihrer Arbeit geben will. Dann aber hätte er folgendes – statt dieser missverständlichen Formulierung – schreiben können: Ein Lehrer, der seine SuS zu kognitiven Leistungen anregen will, muss den SuS geeignete Aufgaben dazu stellen. Dies sind insbesondere solche Aufgaben, deren Lösung eine Entdeckung beinhaltet oder Probleme deren Lösung gerade noch selbständig gelingen kann, nachdem die Grundlagen zur Lösung im Unterricht bereitgestellt wurden. Ein Lehrer, der Wissen in den Köpfen seiner SuS aufbauen will, kann sich im Rahmen seines Lehrens bisweilen durchaus der Schriftform oder der mündlichen Information bedienen. Es kommt darauf an, dass seine Aufgabenstellung (selbstverständlich auch seine schriftlich oder mündlich vorgetragene) so strukturiert ist, dass Wissensgewinn auch selbständig gelingen kann.

Natürlich gibt es keine Standleitung zwischen zwei Gehirnen, wie es sie zwischen zwei elektronischen Werkzeugen gibt. Aber das ist so banal, dass es nicht in didaktischen Texten zum Ausdruck gebracht werden muss.

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Vielen Dank, Roland. Sehr interessanter Beitrag!

Hermann, Dank für deine Anerkennung.

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Ich kenne den genauen Zusammenhang des Zitates nicht. Ich kenne aber die Bedeutung des Kognitivismus und des Konstruktivismus in der Psychologie.

Laut Wikipedia ist Glasersfeld zur Schule gegangen und hat immerhin auch 2 Semester studiert. Warum hat er das gemacht, wenn eine Lehrkraft weder mündlich noch schriftlich zum Wissensgewinn des Schülers beitragen kann?

Die Frage ist also, ob du es genau so interpretierst, wie er es gemeint hat oder ob du mit deiner Interpretation daneben liegst.

Kennst du die Bedeutung des Konstruktivismus? Glasersfeld hat mit dem Zitat nichts Neues gesagt, sondern nur erklärt, was der Konstruktivismus in der Psychologie bedeutet.

Was Glasersfeld meint ist, dass Wissensgewinn im Hirn des Schülers ein aktiver Prozess ist. Man kann also nicht zum Wissensgewinn beitragen, wenn der Schüler nicht aktiv mitdenkt.

Vielleicht ist es hier jemandem auch schon passiert, dass man ein Essay gelesen hat und am Ende nicht verstanden hat, was der Schreiber eigentlich sagen möchte. Oder man liest in einem Roman in der Badewanne 4 Seiten und kann den Inhalt nicht mal wiedergeben. Oder man hört im Radio nebenher die Nachrichten und kann sie im Anschluss nicht wiedergeben.

Eine reine Berieselung mit Text und Sprache langt offensichtlich nicht aus, im Leser bzw. Hörer ein Wissen zu vermitteln. Der Leser/Hörer muss sich auch aktiv mit dem Präsentierten auseinandersetzen. Ansonsten kann kein Wissensgewinn erfolgen.

Der Konstruktivismus betont die aktive Rolle des Lernenden bei der Konstruktion von Wissen. Er besagt, dass Individuen nicht passiv Informationen aufnehmen, sondern ihr Wissen aufgrund ihrer Erfahrungen, Interaktionen und Interpretationen selbst aufbauen.

Ich kann empfehlen, sich mit den Strömungsrichtungen des Kognitivismus und des Konstruktivismus in der Psychologie zu beschäftigen.

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Der Verweis auf die konstruktivistische Grundlage des

Glaserfeldschen Denkens war sehr hilfreich!

Mathecoach, du hast natürlich recht: Auf dem Hintergrund des Konstruktivismus hat Glasersfelds Aussage "Wissen lässt sich weder mündlich noch schriftlich vom Kopf des Lehrers in den Kopf des Schülers übertragen" durchaus Sinn. Glasersfeld hätte aber den Zusatz "... wenn die SuS kein ausreichendes Vorwissen haben und/oder nicht zum schließenden Denken in der Lage sind." Ohne diesen Zusatz bleibe ich bei meiner Bewertung der Glasersfeld'schen Aussage als missverständlich. Worauf es im Lehr-Lern-Prozess ankommt ist ja nicht das Medium der Vermittlung von Information (Sprache, Schrift, Bild oder dgl.) sondern die Disposition des Lernenden (vor-wissend, logisch denkend, motiviert, aktiv oder dgl.). Glasersfeld geht - so verstehe ich ihn - offenbar davon aus, dass es Pädagogen gibt, die an eine Standleitung zwischen Lehrerhirn und Schülerhirn glauben.

die an eine Standleitung zwischen Lehrerhirn und Schülerhirn glauben.

Bei mir hat das mit der Standleitung nicht so gut geklappt ;-)

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