Runderlass des NRW-Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 27.06.2012 – 523-6.08.01-105571 zum Gebrauch von graphikfähigen Taschenrechnern
In diesem Erlass heißt es:
Die fachdidaktische Entwicklung in der Mathematik weist den so genannten ‚Werkzeugen‘ eine immer größere Bedeutung vor allem in der Sekundarstufe II zu.
Der Gebrauch von graphikfähigen Taschenrechnern erlaubt nach fachdidaktischen Gesichtspunkten eine Entlastung von kalkülorientierten Routineberechnungen und eine schnelle Visualisierung von Graphen. Er ermöglicht damit einen kreativen Umgang mit mathematischen Fragestellungen.
Aus diesem Grund wird die Nutzung graphikfähiger Taschenrechner (GTR) ab dem 1. August 2014 für die gymnasiale Oberstufe und das Berufliche Gymnasium verbindlich.“
Das sind Aussagen, die hinterfragt werden sollten:
1. Die fachdidaktische Entwicklung in der Mathematik weist den so genannten „Werkzeugen“ eine immer größere Bedeutung vor allem in der Sekundarstufe II zu.
Die Schul-Mathematik zeichnet sich in der fachdidaktischen Entwicklung insbesondere durch sehr divergierende Meinungen der Fachleute aus. Drei Belege:
Lynn Arthur Steen (1941 – 2015) amerikanischer Mathematikprofessor:
„Mathematikdidaktik bearbeitet ein Feld der Unordnung, ein Feld, auf dem große Hoffnungen auf eine Erziehungswissenschaft von der Komplexität erdrückt und im Meer konkurrierender Ideen ertränkt wurden.“
Thomas Kriecherbauer zitiert von Erich Ch. Wittmann in: Schule intakt 2014-08.04, Seite 10:
„Als Vater zweier schulpflichtiger Kinder und Ehemann einer Gymnasiallehrerin (Mathematik) beschleicht mich das Gefühl, dass sich zumindest in den letzten zehn Jahren das Bildungskonzept der Schulen gewaltig verändert hat in eine Richtung, bei der es mir schwer fällt zu glauben, dass die Schulen in der Lage sein werden in ausreichender Zahl Absolventen hervorzubringen, denen ein Studium in den MINT-Fächern gelingen kann. Mein Eindruck ist, dass viele unserer Kollegen in der Mathematik diese Einschätzung teilen, aber glauben, dass der Kampf gegen Zeitgeist und erziehungs-wissenschaftlichen Mainstream aussichtslos ist.“
Erich Ch. Wittmann in: Schule intakt 2014-08.04, Seite 1:
„In der Bildungspolitik gelten heute bestimmte Positionen, zum Beispiel Kompetenzorientierung, Bildungsmonitoring, Schulzeit-verkürzung, Schülerorientierung, Inklusion et cetera als ‘gesetzt’. Sie werden daher umgesetzt, ohne dass deren Sinnhaftigkeit im komplexen System Schule mit allen Konsequenzen wirklich gründlich geprüft wurde. Der Autor hält dies für einen gravierenden Fehler.“
Eine einheitliche fachdidaktische Entwicklung, von der der Erlass offenbar ausgeht, gibt es bei genauem Hinsehen gar nicht. Aber das können Verfasser von Erlassen nicht wissen, weil die zitierten Autoren von deutschen Bildungsministerien nicht gelesen werden. Konterkarieren solche Ansichten doch die von der OECD vorgegebene Linie, der man sich in den Bildungsministerien verschrieben hat:
„Das Ziel der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development, OECD) ist es, eine Politik zu befördern, die das Leben der Menschen weltweit in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht verbessert…Auf der Grundlage unserer Analysen sprechen wir Politikempfehlungen aus. Dabei stehen wir mit der Unternehmerseite genauso in Kontakt wie mit Gewerkschaften oder mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft. Uns alle eint das Bekenntnis zu einer Marktwirtschaft, die von demokratischen Institutionen getragen wird und die das Wohl aller Bürger zum Ziel hat.“
Der OECD geht es also auch um wirtschaftliche Verbesserungen und sie vertritt die Interessen insbesondere der Unternehmer ohne Einbeziehung eines Blickes auf die klassischen Bildungsziele: Eigenständiges Denken und Urteilsfähigkeit auf der Grundlage eines möglichst umfassenden Wissens über die Welt.
2. Der Gebrauch von graphikfähigen Taschenrechnern erlaubt nach fachdidaktischen Gesichtspunkten eine Entlastung von kalkülorientierten Routineberechnungen und eine schnelle Visualisierung von Graphen.
Selbstverständlich werden Routineberechnungen vom Taschenrechner schneller und genauer ausgeführt, als dies vor Jahrzehnten noch mit Rechenschieber und Logarithmentafel möglich war. Aber gleichzeitig können die Beherrschung von Rechengesetzen und Rechenregeln verloren gehen. Kopfrechnen sollte weiterhin geübt werden. Hochschulen und Universitäten führen für Studienanfänger inzwischen Brückenkurse zum Mittelstufenstoff durch, damit die Studenten den Vorlesungen mit Mathematikbezug folgen können.
Auch eine schnelle Visualisierung von Graphen kann didaktische Vorteile mit sich bringen, solange nicht der Funktionsbegriff dahinter verschüttet wird. Die Erfahrung zeigt, dass viele Schüler f(x) eher als fx begreifen und einen Graphen nicht als konstruierbare Punktmenge sondern als Ergebnis einer Tastenkombination auf dem grafikfähigen Taschenrechner sehen. Ein tieferes Verständnis des Funktionsbegriffes bleibt – dank GTR – vielen Schülern verschlossen.
3. Er [der GTR] ermöglicht damit einen kreativen Umgang mit mathematischen Fragestellungen.
Das klingt fast so, als hätte es ohne elektronische Werkzeuge noch keinen kreativen Umgang mit mathematischen Fragestellungen gegeben. Die Geschichte der Mathematik zeigt indessen ein ganz anderes Bild. Ein Beispiel: Als der Grundschüler Carl-Friedrich Gauß die Zahlen von 1 bis 100 addieren sollte, hatte er nach wenigen Sekunden das korrekte Ergebnis. Man stelle diese Aufgabe einmal in einer mit GTR ausgerüsteten 7. Klasse! Nicht selten hat in er Geschichte der Mathematik gerade das Fehlen eines elektronischen Werkzeugs das Nachdenken über Rechenvereinfachungen beflügelt und die Entwicklung der Mathematik ein gutes Stück vorangebracht.
Um die neuen Werkzeuge tatsächlich für einen kreativen Umgang mit mathematischen Fragestellungen zu nutzen, muss die Mathematik auch ohne Elektronik zunächst einmal so umfassend wie möglich beherrscht werden. Auf dieser Grundlage ist dann ein kreativer Umgang mit mathematischen Fragestellungen bei Einsatz elektronischer Werkzeuge durchaus möglich.
Leider haben die deutschen Bildungsministerien seit Jahrzehnten kein Konzept entwickelt, das den Lehrern zum Einsatz der neuen Werkzeuge an die Hand gegeben werden kann. Daher verfolgt jeder sein individuelles Konzept.