Was kann der Sinn dieser Aufgabe sein:
Bestimmen Sie r und s in Abhängigkeit von x und y mit a= \( \frac{rx}{x^2+y^2} \), b= \( \frac{ry}{x^2+y^2} \) c= \( \frac{sx}{x^2+y^2} \), d= \( \frac{-sy}{x^2+y^2} \) sodass (1) a+b+c+d=2, (2) a2+b2+c2+d2=2 und (3) a3+b3+c3+d3=2.
In der Schulmathematik wird eine solche Aufgabe nicht gestellt. Denn dort geht es um die Auswahl und Anwendung eingeübter Standardverfahren oder um einen konstruierten Bezug zur aktuellen oder zukünftigen Lebenswelt. Die Didaktik der Mathematik hat den Anwendungsbezug zur Grundlage der Motivation von Schüler*innen erklärt, überhaupt Mathematik zu betreiben. Da aber weder die Oberstufenanalysis noch weite Teile der Mittelstufenalgebra aus dem Wunsch entstanden sind, Jugendlichen ihre Umwelt zu erschließen, müssen Pseudoanwendungen erdacht werden. Tatsächlich ist vieles, was die Bildungsbehörden in Stoffplänen vorschreiben nicht lebensnäher als Newtons Physik, Marxsche Wirtschaftstheorie, Goethes Faust oder Beethovens Neunte. Wer als Lehrer*in so tut, als wäre das anderes, betrügt seine Schüler*innen. Und wer nur Aufgaben für zulässig erklärt, die einen Anwendungsbezug haben, argumentiert intellektuell unredlich.
Der Sinn der eingangs gestellten Aufgabe liegt in ihrer Herausforderung. Diese Herausforderung kann hier nur angenommen werden, wenn auf Anwendbarkeit verzichtet wird. Und sie kann nur dann bewältigt werden, wenn heuristische Prinzipien und Verfahren bekannt sind und beherrscht werden. Heuristik ist unglücklicherweise nicht Gegenstand des Unterrichts in Schulmathematik. Dabei hat George Polya mit seiner 'Schule des Denkens' einen hervorragenden Leitfaden vorgelegt, der geeignet ist, Heuristik zu einem Unterrichtsgegenstand zu machen.
Eines der von Polya genannten heuristischen Prinzipien ist der vorübergehende Verzicht auf eine oder mehrere in der Aufgabe genannten Bedingungen. Im Falle der Eingangs genannten Aufgabe drängt sich der Verzicht auf die Gleichung (3) sofort auf. Aber auch die Lösung eines Systems aus der linearen Gleichung (1) und der nicht linearen Gleichung (2) bereitet Schüler*innen Schwierigkeiten. Im Zeitalter digitaler Werkzeuge wird gerne Computer-Algebra (CAS) genutzt und die ganze Herausforderung mit einem Schlage zunichte gemacht.
Um sich der Lösung heuristisch zu nähern und ohne digitales Werkzeug zu Lösung zu gelangen, ist hier ein weiterer Verzicht auf eine Bedingung (nämlich Gleichung (2)) ein vielversprechender Ansatz. Die Gleichung (1) kann nämlich umgeformt werden zu x·\( \frac{r+s}{2} \)+y·\( \frac{r-s}{2} \)=x2+y2. In dieser Darstellung drängen sich die Gleichungen (i) x=\( \frac{r+s}{2} \) und (ii) y=\( \frac{r-s}{2} \) geradezu auf. Das System (i), (ii) hat die Lösungen r=x+y und s=x - y. Nun ist noch zu prüfen, ob diese Lösungen auch die Gleichungen (2) und (3) erfüllen.