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Fast jede der bisher bekannt gewordenen mathematikdidaktischen Theorien erkennt das Erlebnis mathematischen Wissensgewinns als Ziel der Mathematikvermittlung, unterlässt es aber, ein ganz zentrales Ziel der Wissensvermittlung deutlich genug herauszustellen: Die Vermittlung mathematischer Begriffe. Hier muss zunächst genau analysiert werden, was unter dem Terminus ‚Begriff‘ zu verstehen ist:


1. Der Begriff ist oft ein einzelnes Zeichen (Wort, Symbol, Gedanke o.ä.), in welchem die Gesamtheit aller Merkmale eines bestimmten Sachverhaltes komprimiert sind.
2. Der Begriff ist Mittel der Vergegenständlichung von Gedanken zwecks Einbau in einen weiterführenden Gedanken. Begriffsbildung ist verbunden mit der kognitiven Leistung der Abstraktion. Die Semiotik spricht daher statt von Begriffsbildung von ‚vergegenständlichender Verallgemeinerung‘ (Fachbegriff: Hypostatische Abstraktion).
3. Der Mensch ist in der Lage, in seinem Bewusstsein elementare Zeichen zu Komplexen, Klassen oder Relationen zusammenzuschließen. In diesem Zusammenhang spricht man statt von Begriffen von Superzeichen. Informationselemente werden zu neuen Einheiten verknüpft und wie verdichtete Informationen interpretiert.

Die Konferenz der Kultusminister hat – möglicherweise angesichts vielfältiger didaktischer Theorien – Orientierungshilfe für die praktische Unterrichtsarbeit gegeben. 2012 hat sie sich auf sehr allgemein formulierte Ziele von Mathematikunterricht geeinigt, die sie in Form eines Erwerbs sogenannter Kompetenzen durch die Lernenden sieht. Darunter sind insbesondere die Kompetenzen:
(K1) mathematisch argumentieren und (K6) kommunizieren.
Das Kommunizieren (K6) ist im Bereich der Mathematik vermutlich überwiegend ein Argumentieren (K1). Hier bleibt unerwähnt, welche überragende Bedeutung den mathematischen Begriffen (im Sinne obiger Analyse) im Rahmen einer Argumentation oder einer Kommunikation zukommt. Mathematische Begriffserfassung beginnt spätestens in der Grundschule mit der Erfassung des Zahlbegriffes. Darauf bauen die Begriffe für erste Operationen mit Zahlen auf. Und so geht der Aufbau bis hin zu einer umfassenden Algebra immer weiter. Dem Kommunizieren und speziell dem Argumentieren muss nicht nur in der Mathematik ein solider Begriffserwerb vorausgehen. Nur wenn beide an der Kommunikation Beteiligte das gleiche Begriffsverständnis besitzen, können Argumente verstanden werden und schließlich überzeugen. Das gilt bezüglich eines jeden Kommunikationsthemas. Jedes Substantiv und jedes Adjektiv unserer Sprache ist letztlich das Ergebnis einer hypostatischen Abstraktion und folglich eines erworbenen Begriffes.

Der Abgleich der Übereinstimmung von Begriffen im Rahmen von Argumenten geschieht für die an der mathematischen Kommunikation Beteiligten meistens durch Begriffsdefinitionen, die auch implizit geklärt sein können. Oft ist es besser, Beispiele und Gegenbeispiele eines Begriffes zu kennen an Stelle des expliziten Wortlauts der Definition. Im Rahmen einer Argumentation kann es in einzelnen Fällen notwendig werden, Begriffsinhalte zunächst zu klären. Eine Kommunikation ohne Einigung auf Begriffsinhalte ist fruchtlos. Eine besondere Form der mathematischen Argumentation ist der mathematische Beweis. An dessen Ende wird die Behauptung eines Beweisenden vom Gesprächspartner als wahr anerkannt. Ein Beispiel: Person B bezweifelt die Behauptung der Person A: n3+11n ist für alle natürlichen Zahlen n durch 6 teilbar.
Daraufhin liefert Person A diese Argumentationskette:
1. (n-1)n(n+1)+12n ist durch 6 teilbar.
2. (n-1)n(n+1)+12n = n(n2-1)+12n =n3+11n.
3. n3+11n ist durch 6 teilbar.
Schon das erste Argument könnte bei Person B zu Unverständnis und Nachfragen führen. Ursache dafür wäre in diesem Falle eine unvollständige Erfassung des Begriffes der Teilbarkeit auf Seiten von B. Der Begriff der Teilbarkeit ist ein Superzeichen, welches möglichst viele Merkmale der Teilbarkeit (Sätze, Definitionen, Operationen) erfasst – in den Worten der Semiotik eine hypostatische Abstraktion. Um Argument 1 der dargestellten Argumentationskette zu verstehen, muss der Begriff der Teilbarkeit folgende Merkmale enthalten:
a) Unter drei aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlen ist immer eine gerade und eine durch 3 teilbare Zahl.
b) Eine durch zwei teilerfremde Zahlen teilbare Zahl ist immer auch durch deren Produkt teilbar.
c) Eine als Produkt darstellbare Zahl ist durch die Teiler ihrer Faktoren teilbar.
d) Eine als Summe darstellbare Zahl ist durch die gemeinsamen Teiler ihrer Summanden teilbar.
Um Argument 2 zu verstehen, müssen zusätzlich Regeln der Termumformung beherrscht werden (z.B. die dritte binomische Formel). Offensichtlich muss Mathematikunterricht in ganz besonderer Weise dem Erwerb von Begriffen dienen. Kommunizieren und speziell argumentieren setzt voraus, das die an der Kommunikation Beteiligten ein fast das identisches Begriffsverständnis besitzen. Mathematik-Lernen ist in erster Linie Begriffserfassung. Und Mathematiktreiben ist überwiegend der Einbau von erworbenen Begriffen in weiterführende mathematische Gedanken. Auf diese Weise werden neue Begriffe erworben und so geht es immer weiter. Diese Rekursivität mathematischen Wissenserwerbs ist ein zentrales Wesensmerkmal der Mathematik.

Avatar vor von 123 k 🚀

Relevant: https://en.wikipedia.org/wiki/Structuralism_(philosophy_of_mathematics)

Wie bringst du jemandem didaktisch wertvoll Mathematik bei, der deine philosophische Einstellung zu Mathematik nicht teilt?

joners, es gibt keine Mathematik ohne Begriffe. Um sich in irgend einer Sprache auszudrücken - sei es die Muttersprache, eine Fremdsprache oder die Sprache der Mathematik - bedarf es der Begriffe in dem von mir analysierten Sinne. Das hat mit philosophischen Einstellungen nichts zu tun. Dein Link zum Strukturalismus trifft mein Thema schon deshalb nicht

2 Antworten

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Hallo

für mich ist Mathematik lernen sehr viel mehr als "Mathematik-Lernen ist in erster Linie Begriffserfassung." Natürlich muss man mit "Zahl" ,Addition. Multiplikation, Bruch usw. umgehen lernen aber das fehlt den meisten suS nicht. Was fehlt sind Begründungen, Beweise. Argumente, kurz logisches Schließen. Was du z,B, über Teilbarkeit sagst als "Superzeichen" verstehe ich schon nicht, Teilbarkeit ist ein einfacher Begriff, aber zu teilbar gibt es ein paar einfache Regeln oder Gesetze, die man wieder mit Argumenten zeigen sollte.

Soweit kurz, insgesamt finde ich deine Betonung von Begriffen übertrieben.

Avatar vor von 108 k 🚀

lul, ich habe nicht behauptet, dass Mathematik-Lernen ausschließlich aus Begriffserwerb besteht, sondern die zentrale Rolle des Begriffserwerbs im Zusammenhang mit den Kompetenzen Kommunizieren und Argumentieren beschrieben.

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Stimme der Antwort von lul soweit zu. Die Ausführungen von Roland halte ich für zu weit hergeholt. Wäre Mathematik eine reine Wissenschaft von Begriffen, hätten die wenigsten Leute Probleme damit. Vokabeln und Grammatik zu lernen und diese Begriffe in sinnvolle Sätze zu verpacken, klappt ja schließlich auch.

Mathematik erfordert unter anderem auch das Erkennen von Mustern und Regelmäßigkeiten bzw. Gesetzmäßigkeiten und auch die Anwendung dieser, was wiederum Übung erfordert.

Den Begriff der Teilbarkeit hingegen kann man eindeutig definieren, sowohl sprachlich als auch formal mathematisch. Das was hier als Merkmale der Teilbarkeit verkauft werden sind schlicht jene Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der Begriffsdefinition ergeben und sich mathematisch beweisen lassen, was selbstverständlich das Vorhandensein anderer Begriffe erforderlich macht. Nicht erforderlich hingegen sind diese Gesetzmäßigkeiten, um den Begriff der Teilbarkeit zu verstehen. Bereits ein Grundschüler kann auf einfache und spielerische Weise verstehen, was Teilbarkeit bedeutet: kann er seine bestimmte Anzahl \( x \) an Bonbons vollständig mit \( y \) Freunden (er inklusive) teilen? Dazu muss er weder irgendwelche Termumformungen noch zahlentheoretische/algebraische Konzepte verstanden haben. Aber vielleicht findet er heraus, dass wenn er seine \( x \) Bonbons unter \( y \) Personen aufteilen kann, dass er dann auch jedes Vielfache seiner \( x \) Bonbons genauso vielfach an diese \( y \) Personen aufteilen kann.

Zur Kommunikation erfordert es vielmehr eine saubere Definition, die keine Missverständnisse zulässt. Um eine ganze Zahl zu definieren, muss man nicht wissen, welche Eigenschaften, Operationen oder mathematischen Resultate damit einhergehen.

Avatar vor von 19 k

Apfelmännchen, du schreibst:

'Mathematik erfordert unter anderem auch das Erkennen von Mustern und Regelmäßigkeiten bzw. Gesetzmäßigkeiten und auch die Anwendung dieser, was wiederum Übung erfordert.'

Erkannte Muster und Regelmäßigkeiten müssen eingebaut werden in weiterführende Gedanken. Das nennt die Semiotik 'Hypostatische Abstraktion' - zu Deutsch: 'Vergegenständlichende Verallgemeinerung' oder in meinen Sinne 'Begriff'.

Es stellt sich einerseits die Frage, was du mit deinem "Geschwafel" (ja, aktuell ist das für mich nichts anderes, weil es aus meiner Sicht alles andere als vernünftig wissenschaftlich ist bzw. man den Text nur wenig Ernsthaftigkeit entgegenbringen kann) bezweckst und andererseits, wieso du das Thema erneut aufgreifst, nachdem du es dort

https://www.mathelounge.de/1011121/mathematisches-beweisen-in-der-schule oder dort

https://www.mathelounge.de/1034476/erganzungen-zum-semiotischen-dreieck oder dort

https://www.mathelounge.de/722807/erst-denken-dann-rechnen-prozess-hypostatischen-abstraktion

bereits in ähnlicher Form gemacht hast.

Letzteres findet man sogar 1:1 bei der Deutschen Mathematiker-Vereinigung:

https://www.mathematik.de/Bildung/107-taschenrechner-erst-denken-dann-rechnen

wo man sich wohl auch zu Recht fragen darf, warum man das mehr als 8 Jahre später noch einmal hier präsentiert.

Apfelmännchen, auf Kommentare wie deinen, dem es an höflichem Ausdruck fehlt, gehe ich auch dann nicht ein, wenn viele mitgeteilte Links von Belesenheit zeugen.

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