Der Unterschied zwischen den von den Griechen überlieferten Aufzeichnungen und den Aufzeichnungen in ägyptischen Papyrusrollen oder auf babylonischen Tontafeln besteht vor allem darin, dass die Griechen Erklärungen der Zusammenhänge suchten und die Beweisführung in die Mathematik integriert haben. Damit war ein zusätzliches und bis heute ein grundlegendes Merkmal dieser Wissenschaft geschaffen.
Während bei den Ägyptern und den Babyloniern die Rechenkunst ein bestimmendes Wesensmerkmal der Mathematik war, wurde sie bei den Griechen zum Hilfsmittel oder Werkzeug. Das ist bis heute so geblieben und hat selbstverständlich auch schulische Didaktik des Rechnens mit beeinflusst. Bei Eintritt in eine schulische mathematische Ausbildung besitzen Kinder im besten Falle einen Zahlbegriff, die Rechenkunst müssen sie erst noch erwerben. Und das nicht nur, damit ihnen im Laufe ihrer weiteren mathematischen Ausbildung die erforderlichen Hilfsmittel und Werkzeuge zur Verfügung stehen. Wenn das so wäre, könnte der Taschenrechner bereits nach dem gesicherten Erwerb des Zahlbegriffes obligatorisch werden.
Man hat sich in der aktuellen Didaktik darauf geeinigt, dass der Einsatz elektronischer Werkzeuge ab Klasse 7 zu fordern ist. Offenbar geht man davon aus, dass bis dahin sämtliche Rechenarten Unterrichtsgegenstand waren und von den Schülern vollständig verstanden wurden. Mit Blick auf die Rechneregeln der Division durch einen Bruch kann von einem Verstehen allerdings nicht in jedem Falle ausgegangen werden. Darüber hinaus kommen oberhalb von Klasse 7 weitere Operationen zum Stoff der der Schulmathematik hinzu. Die selbstverständliche Verfügbarkeit digitaler Werkzeuge macht die Beherrschung der Rechenkunst aus der Sicht fast aller Schüler und auch vieler Lehrer obsolet. Mit Friedrich Bauer könne man sagen:
Digitale Werkzeuge bewirken die Befreiung des Menschen von der Last eintöniger geistiger Tätigkeit.
Damit hat sich in der Didaktik der Mathematik die Überzeugung verbreitet, dass das Rechnen bestenfalls einen marginalen Anteil am schulischen mathematischen Curriculum haben sollte. Freudenthal hatte schon 1974 geäußert:
Wenn unser Unterricht heute darin besteht, dass wir Kindern Dinge eintrichtern, die in einem oder zwei Jahrzehnten besser von Rechenmaschinen erledigt werden, beschwören wir Katastrophen herauf.
Nun ging Bauer offenbar von einem Menschen aus, der Mathematik als Wissenschaft auf der Grundlage eines mathematischen Wissens betrieb und bereits über Fertigkeiten im Rechnen verfügte. Freudental dagegen spricht über Kinder. Man bemerke den Unterschied! Bei der Bewertung der Aussagen von Bauer und von Freudenthal sollte man nicht übersehen, dass das Rechnen eine Doppelrolle spielt: Die des Rechnenlernens als Bestandteil des Mathematiklernens nicht nur von Kindern und die des Rechnens im Rahmen der Lösung von Problemen nicht nur von Mathematikern. Selbstverständlich gibt es Bestandteile des überlieferten Mathematikunterrichts, die heute besser von Rechenmaschinen erledigt werden. Dazu gehören insbesondere früher notwendige Vermittlungen von Fertigkeiten beim Einsatz von Logarithmentafel und Rechenschieber. Die Vereinfachung des Rechens war über Jahrtausende ein Anliegen von Mathematiktreibenden und hat immer wieder auch der Mathematik als Wissenschaft Impulse gegeben. In der Bereitstellung digitaler Werkzeuge scheint die Vereinfachung des Rechnen ihren Abschluss gefunden zu haben. Weder Handwerker noch Ingenieur brauchen heute einen Kreisumfang bei gegebenem Radius mit einer höheren Genauigkeit als sie ein handelsüblicher Taschenrechner liefert. Und Wissenschaftler rechnen mit einer Zahl, die sie π nennen und deren spezifische Eigenschaften in diesem Zeichen zusammengefasst sind, ohne dass gerundete Näherungen aufgeführt werden müssen.
Im Rahmen von Bildung aber sollte in der Schule die kulturelle Leistung gewürdigt werden, wie sie zum Beispiel im Zusammenhang der Annäherung an die Kreiszahl π erbracht werden musste. Und auch die mathematischen Grundlagen, welche zur Erfindung des Rechenschiebers oder zur Berechnung der Logarithmentafel bereitstanden, gehören zu den kulturellen Errungenschaften, über die ein gebildeter Mensch etwas wissen sollte. Heute gibt es Maschinen, welche π oder den Logarithmus einer Zahl auf jede gewünschte Stellenzahl genau ausgeben. Aber wir beschwören keine Katastrophen herauf, wenn wir Kindern einen Einblick in kulturelle Leistungen ermöglichen, die heute von Rechenmaschinen erledigt werden können. Katastrophen werden indessen heraufbeschworen, wenn wir Anlass geben, die Länge der Raumdiagonale eines Quaders mit den Kantenlängen 3, 5 und √2 so zu berechnen: √(52+32 )=5,83 (Pythagoras; gerundet; mit dem Taschenrechner ermittelt) und √2=1,41 (gerundet; mit dem Taschenrechner ermittelt). Und dann die Raumdiagonale als √(5.832 + 1.412)=5,998 (wiederum Pythagoras; gerundet; mit dem Taschenrechner ermittelt).
Zur Berechnung der Summe 3+6+9+ … +594+597 ist ein digitales Werkzeug ohne Vorüberlegungen ungeeignet aber ein vertieftes Verständnis des hilfsmittelfreien Rechnens mindestens von Vorteil. Das Auswendiglernen einer Summenformel erübrigt sich hier, wenn verstanden wurde, wie der kleine Gauß die Summe der natürlichen Zahlen von 1 bis 100 in Sekunden berechnete und das Distributivgesetz verinnerlicht wurde.
Mit der Einführung digitaler Werkzeuge in den Mathematikunterricht ist das Rechnen trivialisiert worden. Das war nicht zu vermeiden. Aber eine vollständige Vernachlässigung der Rechnenlernens war dennoch nicht angezeigt. Die Berechnung von log3(81) gelingt hoffentlich ohne digitales Werkzeug und ist gleichzeitig ein Beleg dafür, dass der Begriff des Logarithmus verinnerlicht wurde. Die Länge der Diagonale eines Einheitsquadrates sollte auch ohne Taschenrechner in der gleichen Genauigkeit rekursiv bestimmt werden können, wie mit ihm. Die Vereinfachung etwa eines bei der Durchführung des Heron-Verfahrens auftretenden Terms (17/12+24/17)/2 ist eine gute Gelegenheit, Kenntnisse der Bruchrechnung aufzufrischen, die sonst bei exzessivem Rechnergebrauch verloren gehen könnten. In der Didaktik eines Freudenthal wird nicht klar genug unterscheiden zwischen der Rolle des Rechnens im Rahmen des Rechnen- und Begriffslernens einerseits (hier ist das digitale Werkzeug kontraproduktiv) und dem mechanischen Rechnen im Rahmen einer Problemlösung (hier stellt das digitale Werkzeug ein ausgezeichnetes Hilfsmittel dar).