Wenn ich mich an meine Schulzeit (um1970) erinnere, denke ich mit Grausen an die Logarithmentafel. Mit ihrer Hilfe galt es zum Beispiel √19·sin(32,5°) zu berechnen. Selbst die besten Mathematiker meiner Klasse benötigten über 5 Minuten, um 2,342 herauszubekommen. Das macht heute der Taschenrechner in weniger als 5 Sekunden und auf 10 gültige Ziffern genau. Eine gewaltige Zeitersparnis – aber ist der Mathematikunterricht heute im Zeitalter der digitalen Werkzeuge besser als zu meiner Zeit?
Heute bin ich pensionierter Lehrer und weiß aus der Erfahrung vieler Jahre, wie Schülerinnen und Schüler mit dem Taschenrechner umgehen. Macht der Taschenrechner tatsächlich die Schüler leistungsfähiger in Mathematik?
Vor einigen Jahren stellte ich meinen Zehntklässlern im Rahmen der Unterrichtseinheit ‚Arithmetische Reihen‘ die berühmte Aufgabe 1+2+3+ … + 98+99+100 =. Daraufhin begann gut die Hälfte der Klasse geschäftig mit dem Taschenrechner zu arbeiten. Dies unterbrach ich und erzählte die Anekdote vom kleinen Gauß, den sein Lehrer eine Zeitlang beschäftigen wollte und die Aufgabe stellte, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Nach wenigen Sekunden legte bekanntlich der kleine Gauß dem Lehrer seine Schiefertafel mit den richtigen Ergebnis 5050 auf den Tisch. Meine Schülerinnen und Schüler wollten natürlich wissen, wie er das gemacht hatte und ich wollte sie nicht auf die Folter spannen. Nachdem ich Gauß Rechenvereinfachung verraten hatte, stelle ich die Aufgabe 5+8+11+ … +95+98+101=. Eine knappe Hälfte der Schülerinnen und Schüler konnte mit dieser Aufgabe nichts anfangen, weil der Taschenrechner offensichtlich nicht eingesetzt werden sollte und das Addieren von Hand und im Kopf nicht mehr geläufig war. Den Transfer von Gauß Lösung auf diesen Fall gelang aber doch mehr als der Hälfte meiner Schülerinnen und Schüler.
Auch nach diesem Erlebnis griffen immer noch viele meine Schülerinnen und Schüler beratungsresistent zum Taschenrechner, sobald Zahlen und Rechenzeichen gesichtet wurden. Für die Aufgaben \( \frac{3}{2} \cdot 4 \) und \( 3,2:32 \) greifen sie schon deshalb zum Taschenrechner, weil sie inzwischen alle Regeln der Bruchrechnung vergessen haben. Sie kamen ja auch ab Klasse 7 nie mehr zum Einsatz. Das Selbstverständliche und Naheliegende wird nicht mehr gesehen, weil der Automat den Blick verstellt und Rechenregeln nicht mehr an Beispielrechnungen händisch wiederholt und auf diese Weise behalten werden. Der Kalkül ist wichtig, wenn es um die Wahl des besten Werkzeuges (Kopf oder Rechner) geht. Rechenvereinfachungen werden nicht vom Rechner angeregt, sondern finden im Kopf statt. Rechengesetze dienen in erster Linie der Rechenvereinfachung und können durch den Rechner verschüttet werden, obwohl sie erlebbar machen könnten, wie mathematisches Wissen gewonnen wird.
Die Ablehnung digitaler Werkzeuge im Mathematikunterricht hieße allerdings, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Digitale Werkzeuge können zu einer wunderbaren Bereicherung des Mathematikunterrichtes beitragen. Zwei wichtige mathematische Tätigkeiten, nämlich ‚Mustererkennung‘ und ‚Repräsentationswechsel‘ erfahren durch den Rechner eine wertvolle Unterstützung. Rechner können große Datenmenge liefern, die etwa iterativ entstehen und denen ein explizites Muster innewohnt, das es zu entdecken und zu beweisen gilt. Rechner beherrschen den Repräsentationswechsel auf Knopfduck (Punktmenge, Graph, Funktionsterm/-gleichung) was das Finden von Beweisideen begünstigt.
Wenn man digitale Werkzeuge nicht zu Rechenknechten degradiert, sondern sie in ihrer Mächtigkeit wahrnimmt, könnten sie einen Mehrwert für den Mathematikunterricht liefern. Und selbstverständlich soll die Aufgabe √19·sin(32,5°) unbedingt mit dem Taschenrechner gelöst werden.
Schön wäre auch eine breitere Verfügbarkeit von CAS und DGS im Mathematikunterricht welche z. B. komplizierte Formeln auf Kopfdruck vereinfachen oder Skizzen dynamisch verändern können und so den Weg zu weiteren Überlegungen und Entdeckungen ebnet.
Ref: Digitale Werkzeuge im Mathematikunterricht (Teil 2)