Aloha :)
Die erste Formel aus deiner Vorlesung ist falsch. Wenn man die korrekte Formel hinschreibt, wird der Unterschied zwischen den beiden Varianzen bzw. Standardabweichungen klar:
$$\sigma=\sqrt{\frac{1}{N}\sum\limits_{i=1}^N\left(x_i-\mu\right)^2}\quad;\quad\mu:=\sum\limits_{i=1}^Nx_i\cdot p_i$$$$\sigma_{emp}=\sqrt{\frac{1}{n-1}\sum\limits_{i=1}^n\left(x_i-\overline x\right)^2}\quad;\quad\overline x=\sum\limits_{i=1}^nx_i\cdot\frac{1}{n}$$
In der ersten Formel steht der exakte Erwartungswert \(\mu:=\sum_{i=1}^Nx_ip_i\). Diesen kannst du nur bestimmen, wenn du alle(!) möglichen Werte \(\{x_i\}\) und die dazu passenden Eintrittswahrscheinlichkeiten \(p_i\) kennst. Das groß geschriebene \(N\) symbolisiert, dass die Summe über alle möglichen Werte \(\{x_i\}\) gebildet werden muss.
Da dies bei empirischen Stichproben nie der Fall ist, nähert man den exakten Erwartungswert \(\mu\) durch den Mittelwert \(\overline x\) an. Dabei nimmt man an, dass alle \(n\) Werte \(x_i\) der Stichprobe mit derselben Wahrscheinlichkeit \(\frac{1}{n}\) auftreten. Falls ein Wert \(k\)-fach auftritt, wird er entsprechend \(k\)-fach gezählt, sodass seine Eintrittswahrscheinlichkeit automatisch zu \(\frac{k}{n}\) appromiert wird.
Der Unterschied zwischen beiden Formeln ist also, dass \(\overline x\) ein Näherungswert für \(\mu\) ist und dadurch selbst mit einem Fehler \(\sigma(\overline x)=\sigma/\sqrt n\) behaftet ist, wie schnell aus der Gauß'schen Fehlerfortpflanzung folgt:
$$\sigma^2(\overline x)=\sigma^2\left(\sum\limits_{i=1}^n\frac{x_i}{n}\right)=\underbrace{\left(\frac{\delta x_1}{n}\right)^2+\cdots+\left(\frac{\delta x_n}{n}\right)^2}_{n \text{ Summanden}}=n\left(\frac{\sigma}{n}\right)^2=\frac{\sigma^2}{n}$$Dieser Fehler wirkt sich auf die Standardabweichung aus und vergrößert diese. Der Faktor \(\frac{1}{n-1}\) ist gerade so gewählt, dass \(\sigma^2=\left<\sigma_{emp}^2\right>\) gilt, dass also der Erwartungswert von \(\sigma_{emp}^2\) gleich \(\sigma^2\) ist.
Normalerweise würde ich meine Antwort hier jetzt beenden. Da du aber offenbar sehr interessiert daran bist, Mathematik wirklich tief zu verstehen, mache ich mir hier die Mühe und rechne den Erwartungswert von \(\sigma_{\text{emp}}^2\) aus, um zu zeigen, dass dieser tatsächlich gleich \(\sigma^2\) ist.
Im ersten Schritt bauen wir den Erwartungswert \(\mu\) in die Formel ein:$$x_i-\overline x=x_i\underbrace{-\mu+\mu}_{=0}-\overline x=(x_i-\mu)+(\mu-\overline x)$$$$\Rightarrow (x_i-\overline x)^2=(x_i-\mu)^2+2(x_i-\mu)(\mu-\overline x)+(\mu-\overline x)^2$$$$\Rightarrow \sum\limits_{i=1}^n(x_i-\overline x)^2=\sum\limits_{i=1}^n(x_i-\mu)^2+\sum\limits_{i=1}^n2(x_i-\mu)(\mu-\overline x)+\sum\limits_{i=1}^n(\mu-\overline x)^2$$Die mittlere und letzte Summe kann man umschreiben:$$\sum\limits_{i=1}^n2(x_i-\mu)(\mu-\overline x)=2(\mu-\overline x)\sum\limits_{i=1}^n(x_i-\mu)=2(\mu-\overline x)(n\overline x-n\mu)=-2n(\mu-\overline x)^2$$$$\sum\limits_{i=1}^n(\mu-\overline x)^2=n\cdot(\mu-\overline x)^2$$und einsetzen, sodass:$$\Rightarrow \sum\limits_{i=1}^n(x_i-\overline x)^2=\sum\limits_{i=1}^n(x_i-\mu)^2-2n(\mu-\overline x)^2+n(\mu-\overline x)^2$$$$\Rightarrow \sum\limits_{i=1}^n(x_i-\overline x)^2=\sum\limits_{i=1}^n(x_i-\mu)^2-n(\mu-\overline x)^2$$Wegen der Linearität des Erwartungswertes gilt damit nun weiter:
$$\left<\sigma_{emp}^2\right>=\left<\frac{1}{n-1}\sum\limits_{i=1}^n\left(x_i-\overline x\right)^2\right>=\frac{1}{n-1}\left<\sum\limits_{i=1}^n(x_i-\mu)^2-n(\mu-\overline x)^2\right>$$$$=\frac{1}{n-1}\left(\sum\limits_{i=1}^n\underbrace{\left<(x_i-\mu)^2\right>}_{=\sigma^2}-n\underbrace{\left<(\overline x-\mu)^2\right>}_{=\sigma^2(\overline x)}\right)=\frac{1}{n-1}\left(n\sigma^2-n\cdot\frac{\sigma^2}{n}\right)=\sigma^2$$Du siehst also, dass hinter der einfachen Korrektur, nämlich Division durch \((n-1)\) anstatt durch \(N\), viel Mathematik steckt.