Einleitung
In diesem Forum werden vereinzelt Fragen nach Nullstellen von Polynomfunktionen gestellt. Es lässt sich vermuten, dass einige Fragesteller am liebsten ein Standardverfahren genannt bekommen möchten, das auf alle Polynomfunktionen anwendbar ist. Gleich vorweg: Ein solches Universalverfahren gibt es nicht. Wohl aber gibt es in Spezialfällen Standardverfahren. Ein Beispiel: Gesucht werden die Lösungen der Gleichung x³ – 6x² + 11x – 6 = 0. Wenn man in diesem Falle wüsste, dass x³ – 6x² + 11x – 6 = (x–1)(x–2)(x–3) gilt, sieht man die Lösungen sofort: x1=1; x2=3; x3=3. Sobald man nämlich eine dieser Lösungen in das Produkt (x–1)(x–2)(x–3) einsetzt, wird ein Faktor und damit das ganze Produkt gleich Null.
Die Faktoren (x–1), (x–2) und (x–3) heißen Linearfaktoren des Polynoms x³ – 6x² + 11x – 6. Offenbar sind mit den Linearfaktoren eines Polynoms auch die Lösungen des Polynoms bekannt. Wie aber findet man die Zerlegung eines Polynoms in Linearfaktoren? Das kann schwierig werden. Daher nähern wir uns dem Problem behutsam. Danach bleibt noch die Frage zu klären: Wie bestimmt man Nullstellen einer Polynomfunktion, deren Faktorenzerlegung sich nicht mit den angegebenen Methoden finden lässt?
Der einfachste Fall
Der einfachste Fall ist die Bestimmung der Nullstelle eines Polynoms ersten Gerades (auch: erster Ordnung oder lineares Polynom). Allgemeines Beispiel: ax+b=0 soll durch Zerlegung des Polynoms ax+b in Faktoren gelöst werden: ax+b=a·(x+b/a) und daher ist die einzige Lösung x=–b/a.
Polynome zweiter Ordnung
Die Nullstellen von Polynomen zweiter Ordnung heißen auch Lösungen quadratischer Gleichungen und hier denken die meisten spontan an die pq-Formel. Aber zunächst gehen wir auf die Zerlegung in Linearfaktoren mit Hilfe der binomischen Formeln ein. Das quadratische Polynom x²– 25 wird mit Hilfe der dritten binomischen Formel als Produkt zweier Linearfaktoren geschrieben: x²– 25= (x– 5)·(x+5) und hat folglich die Nullstellen x1= –5 und x2=5. Das quadratische Polynom x²– 6x+9 wird mit Hilfe der zweiten binomischen Formel als Produkt zweier Linearfaktoren geschrieben: (x–3)(x–3) und hat die sogenannte doppelte Nullstelle x=3. Entsprechendes kann auch mit Hilfe der ersten binomischen Formel gelingen. Weniger bekannt ist schließlich der Satz von Vieta, wonach x²+(r+s)x + r·s die Zerlegung (x+r)·(x+s) hat. Bei der Anwendung dieses Satzes zerlegt man in einem Polynom x²+px+q zunächst q in zwei Faktoren und prüft, ob deren Summe p ergibt. Zum Beispiel ist im Polynom x²+3x+2 der x-freie Summand 2=1·2 und 2+1=3. Also hat x²+3x+2 die Zerlegung (x+2)(x+1) und die Nullstellen x1=–1 sowie x2=–2.
Wenn sowohl die binomischen Formeln versagen als auch der Satz von Vieta nicht zum Ziele führt, kann man mit Hilfe der sogenannten quadratischen Ergänzung ans Ziel kommen. Die quadratische Ergänzung ist das Quadrat des halben Koeffizienten von x. Die Gleichung x²+6x+3 = 0 wird dann so gelöst: Zunächst berechnen wir (6/2)²=9. Dann addieren wir auf beiden Seiten 6 (die Ergänzung zwischen 3 und 9) und erhalten x²+6x+9 = 6. Links vom Gleichheitszeichen wird mit der ersten binomische Formel umgeformt (x+3)²=6. Nach weiterer Umformung wird daraus (x+3)²-(√6)²=0. Jetzt liefert die dritte binomische Formel die Linearfaktorenzerlegung von x²+6x+3 nämlich (x + 3–√6)·(x + 3+√6). Auf die Lösungsmethode durch quadratische Ergänzung geht auch die Herleitung der pq-Formel zurück.
Eine Methode, einen Faktor (manchmal auch einen Linearfaktor) abzuspalten, ist nicht nur bei quadratischen Polynomen das Ausklammern. Grundsätzlich gelingt es, den Koeffizienten der größten Potenz eines Polynoms auszuklammern. Danach brauchen wir nur noch Fälle zu betrachten, in denen die höchste Potenz den Koeffizienten 1 hat. Das Polynom x²+ax besitzt die Zerlegung x(x+a) und damit die Nullstellen x1=0 und x2=–a. Nach einer kleinen Vorarbeit lässt sich auch x²+7/2·x+3/2 so umformen, dass man ausklammern kann: x²+7/2·x+3/2 = x²+6/2·x+1/2·x+3/2. Jetzt kann man aus den ersten beiden Summanden x und aus den anderen beiden 1/2 ausklammern: x·(x+3)+1/2·(x+3) und hier lässt sich (x+3) ausklammern: (x+1/2)·(x+3).
Polynome dritter Ordnung
Polynome dritter Ordnung (auch kubische Polynome) können oft nur mit einigem Aufwand in Faktoren zerlegt werden. Bevor wir dies angehen, handeln wir vier einfache Spezialfälle ab.
Fall 1: Das Polynom enthält nur die Potenzen x³ und x0. Beispiel: x³– 8. Die einzige reelle Nullstelle dieses Polynoms kann über den Ansatz x³– 8=0 gefunden werden. Dann ist nämlich x³=8 und x=2 einzige reelle Lösung.
Fall 2: Das Polynom enthält nur die Potenzen x³ und x2. Beispiel: ax³+bx²=ax²(x+b/a) mit den Nullstellen x1=0 und x2=-b/a.
Fall 3: Das Polynom enthält nur die Potenzen x³ und x1. Beispiel: ax³+bx1=x(ax²+b). Hier ist eine Lösung x=0 und zwei weitere existieren genau dann, wenn die Vorzeichen von a und b unterschiedlich sind. Sei a=–1 und b=4 dann hat (–x²+4) die Zerlegung (2+x)(2–x).
Fall 4: Das Polynom enthält nur die Potenzen von x³, x² und x1. Beispiel: 2x³–6x²+4x=2x·(x²–3x+2). Eine Nullstelle x=0 liefert der erste Faktor, zwei weitere erhält man durch Rückgriff auf den Abschnitt „Polynome zweiter Ordnung“.
Wenn diese Fälle nicht vorliegen, kann man versuchen, die erste Nullstelle zu raten. Beispiel: x³ – 6x² + 11x – 6. Das x-freie Glied 6 hat die natürlichen Teiler 1, 2, 3 und 6. Für x=1 hat das Polynom eine Nullstelle (einsetzen und nachrechnen). Also ist x – 1 ein Linearfaktor und wir führen eine sogenannte Polynomdivision durch:
(x³ – 6x² + 11x – 6):( x – 1)= x²-5x+6. Das Polynom 2. Ordnung x²-5x+6 kann in Faktoren zerlegt werden (siehe oben) und es gilt:
x³ – 6x² + 11x – 6=(x–1)(x–2)(x–3).
Wenn alle diese Fälle nicht eintreten, bleibt nur noch ein aufwändiger Weg mit Hilfe eines Satzes von Cardano.
Satz von Cardano: „x³=ax+b hat die reelle Lösung ³√(b/2+√((b/2)² – (a/3)³)+ ³√(b/2–√((b/2)² – (a/3)³).“
Beispiel: x³=2x+21. Einsetzen von a=2 und b=21 in die Formel von Cardano ergibt ³√(10,5+√((10,5)² – (2/3)³)+ ³√(10,5–√((10,5)² – (2/3)³). Die Berechnung dieses Terms (z.B. durch Eingabe in den Taschenrechner) liefert das verblüffende Ergebnis 3. Damit ist der Linearfaktor (x – 3) gefunden. Nach Abspalten dieses Linearfaktors bleibt ein quadratischer Term stehen, der in diesem Falle allerdings keine rationalen Nullstellen hat.
Zwar hat ein kubisches Polynom im Allgemeinen die Form x³+ax²+bx+c, aber dies kann mit Hilfe der Substitution x=a·z–a/3 in die Form z³+A·z+B transformiert werden. Beispiel: In das Polynom x³ – 6x² + 11x – 6 wird x=–6z+2 substituiert. Dann entsteht nach einiger Rechnung –216z³+6z+0 = -216(z³-36z+0) und der Faktor z³-36z+0 wird auch ohne den Satz von Cardano zerlegt (nur, wenn das x-freie Glied ≠0 ist, muss der Satz von Cardano eingesetzt werden). Nachdem dann die Faktorenzerlegung z(z-6)(z+6) gefunden ist, stehen die Nullstellen z fest und können durch Resubstitution in die Nullstellen x überführt werden.
Polynome vierter Ordnung
Hier gibt es den Spezialfall des biquadratischen Polynoms x4+ax²+b, das durch die Substitution z=x² in ein quadratisches Polynom überführt werden kann. Darüber hinaus gibt es weitere Fälle, in denen das Polynom nicht alle Potenzen xn mit 0≤n<4 enthält und dann eine Reduzierung der Ordnung durch Ausklammern möglich ist. Zwei Fälle sind x4+bx³+ax+ab=x³(x+b)+a(x+b)=(x³+a)(x+b) und x4+ax³+bx²+cx=x(x³+ax²+bx+c). Andere Fälle sind denkbar. Für Polynome der Ordnung n>4 gibt es nur noch in derartigen Spezialfällen standardisierte Zerlegungsmethoden.
Andere Polynome
Wenn keins der genannten Standardverfahren anwendbar ist, bleiben noch Näherungsverfahren, insbesondere das Newtonsche Näherungsverfahren, das an anderer Stelle thematisiert wird. Im schulischen Mathematikunterricht sind heute Computer-Algebra-Systeme (CAS), mindestens aber grafikfähige Taschenrechner (GTR) zugelassen, mit deren Hilfe mindestens das näherungsweise Auffinden von Nullstellen kein Problem mehr darstellt. Wenn der Einsatz elektronischer Werkzeuge durch die Aufgabenstellung ausgeschlossen wird, solle man vermuten, dass eines der zuvor geschilderten Verfahren zu Einsatz kommt.