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Einige Didaktiker (z.B. Lisa Hefendehl-Hebeker, Heinrich Winter) haben ein wichtiges Ziel von Mathematikunterricht identifiziert:
Mathematikunterricht soll erlebbar machen, wie mathematische Wissensbildung geschieht.
Was aber ist eigentlich ‚Wissensbildung‘ und speziell ‚ mathematische Wissensbildung‘ und wie geschieht sie?
Grundsätzlich sind zwei Arten mathematischen Wissens zu unterscheiden: ‚erfundenes Wissen‘ und ‚entdecktes Wissen‘. In beiden Fällen ist noch einmal zu unterscheiden zwischen objektivem (allgemein bekanntem) und subjektivem (nur einem Individuum bekannten) Wissen. Entdeckungen objektiven Wissens sind in der Mathematik ausgesprochen selten. Im Laufe der Geschichte der Mathematik gab es zum Beispiel die Entdeckung der Null als Zahl, die Entdeckung der negativen Zahlen, der Bruchzahlen und schließlich die Entdeckung der irrationalen Zahlen. Geometrische Sätze, wie etwa der Satz des Pythagoras oder der Satz des Thales nennen ebenfalls Entdeckungen von Sachverhalten die dieser Welt auch schon innegewohnt haben, bevor sie entdeckt wurden. Jeder Satz der Mathematik berichtet letztlich über eine Entdeckung oder eine Erfindung. Siehe dazu
www.mathelounge.de/609664/artikel-ist-mathematik-erfunden-oder-entdeckt

Subjektiv entdecktes Wissen kann – im Gegensatz zum sehr seltenen objektiv entdecktem Wissen –  jeder gewinnen, der sich eine Frage stellt und schließlich ihre Antwort findet. Heute gelingt der Erwerb subjektiv erfundenen Wissens im Bereich der Mathematik insbesondere durch die Anwendung elektronischer Werkzeuge, die in der Schulpraxis leider überwiegend als Rechenknechte und selten zum Erwerb subjektiv entdeckten Wissens eingesetzt werden.

Ein Beispiel:
Jemand stellt fest, dass 22-1 durch 3 teilbar, 24-1 durch 5 teilbar und 26-1 durch 7 teilbar ist aber 2n-1-1 nicht durch zusammengesetzte Zahlen n teilbar ist und stellt daraufhin folgende Frage: ‚Ist eine Zahl 2p-1-1 nur dann durch p teilbar, wenn p>2 eine Primzahl ist? ‘ Dann kann vor allem den zweiten Schritt mathematischen Wissensgewinns – das Sammeln von Datenmaterial zu einer Fragestellung – das elektronische Werkzeuge übernehmen. Die Frage kann Anlass zu einem kleinen Computerprogramm sein, das herausfindet, dass 2340-1    durch 341 teilbar ist, also auch für eine zusammengesetzte Zahl p=341 gilt, dass 2p-1-1 durch p teilbar ist. Das so gewonnene mathematische Wissen ist in der Zahlentheorie wohlbekannt, bewirkt aber subjektiv durchaus das Erlebnis mathematischen Wissensgewinns.
Wir wollen die geschilderte Fragestellung und Datensammlung als ‚Wissensbildung durch Erkunden von innen‘ bezeichnen. Daneben gibt es auch eine ‚Wissensbildung durch Information von außen ‘. Das Kennenlernen der Mathematik ‚von innen‘ geschieht, indem man sich in ihr bewegt, etwa Konstruktionen anfertigt, Terme umformt, Gleichungen löst und oder auch das elektronische Werkzeug einsetzt. Die bei einer ‚Erkundung von innen‘ notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten müssen vor allem durch Üben und Wiederholen erworben und gefestigt werden. Leider trägt dieser Sachverhalt allzu häufig dazu bei, dass das Wissen über Mathematik auf den Erwerb und die Festigung von Fähigkeiten und Fertigkeiten reduziert erscheint.
Wissensbildung ‚von außen‘ sollte – wenn es um mathematische Wissensbildung geht – nicht auf die reine Information beschränkt bleiben, und allein aus auswendig gelerntem oder nachgeschlagenem Wissen bestehen, sondern auch strukturelle Eigenschaften, also Gesetzmäßigkeiten in den Blick nehmen. Beispielweise kann die Multiplikation etwa natürlicher Zahlen immer auch strukturell betrachtet werden. Strukturelle Betrachtungen werden bei Grundschülern durch Intuition ersetzt, wenn sie zur Beherrschung des kleinen Einmaleins das Kommutativgesetz und beim großen Einmaleins das Distributivgesetz heranziehen.

Ausgangspunkt jeder Wissensbildung ist – wie gesagt – eine Fragestellung. Eine Annäherung an eine erste Antwort kann dann durch das Sammeln und bewerten von Daten gelingen. Im günstigsten Falle führt die Bewertung der Daten zu einer Hypothese bezüglich der Antwort auf die eingangs gestellte Frage, die bei Bedarf noch weiter erhärtet werden kann (z.B. durch weitere Daten). In der Mathematik gilt eine hypothetische Aussage aber erst dann als wahr, wenn sie bewiesen ist. Wissensbildung vollzieht sich in den Phasen:
- Fragestellung,
- Datensammlung,
- Formulieren und Erhärten einer Hypothese,
- Beweis der Hypothese.


Die ersten drei dieser Phasen können bereits im Mathematikunterricht von Grundschülern erlebt werden. Etwa beim Übergang vom kleinen zum großen Einmaleins kann die Frage auftreten: Ist 11·12 etwa 10·10 + 1·2 oder allgemein: Darf man Zehner und Einer getrennt multiplizieren und die Ergebnisse addieren? Zum Zwecke der Datensammlung kann auf Anschauungsmaterialien zurückgegriffen werden, die schon bei der ersten Einführung der Multiplikation verwendet wurden. Wobei in diesem Falle schnell klar sein dürfte, dass bereits ein einziges Gegenbeispiel die Frage beantwortet. Die Datensammlung ist in diesem Falle eine ‚Wissensbildung von innen‘. Eine ‚Wissensbildung von außen‘ ist erst in einer höheren Klassenstufe im Rahmen der Behandlung des Distributivgesetzes möglich, sollte dann aber auf keinen Fall fehlen.


Ein Beispiel aus der Unterstufe der weiterführenden Schule:
Nach Einführung der Dezimalbrüche und ihrer schriftlichen Multiplikation könnte eine Schülerin die Frage stellen: Ist eigentlich das Produkt zweier positiver Zahlen größer oder gleich mindestens einem der beiden Faktoren? Wenn im Rahmen der Materialsammlung auch das Beispiel 0,5·2 untersucht wird, kann die Frage beantwortet werden. Schwieriger für Sechstklässlerinnen dürfte die Formulierung einer Hypothese sein: Wenn 0≤a≤1 gilt, dann gilt für jede positive Zahl b: a·b≤b. Aber der Beweis der Hypothese ist schon in Klasse 6 möglich.

Der Gewinn subjektiven Wissens kann einerseits deduktiv, also durch Herleitung aus Bekanntem, andererseits aber auch experimentell, beispielweise durch Erstellen großer Datenmengen und deren anschließende Analyse, geschehen. Zur Herleitung aus Bekanntem hatte ich hier einiges gesagt:

www.mathelounge.de/884668/unterricht-rechnenlernen-bezeichnung-mathematikunterricht

geschlossen: Wissensartikel
von Roland
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