Ein Journalist möchte der Frage nachgehen, ob Computer die Arbeit von Mathematikern verändert haben. Er fragt einen Mathematiker: Glauben Sie, dass Mathematiker auch in 50 Jahren noch mit Stift und Papier arbeiten werden? Hinter dieser Frage verbirgt sich ein weit verbreitetes Bild von Mathematik: Mathematik war früher etwas, das man mit Stift und Papier betrieb und das heute mit dem Computer betrieben werden kann – vorausgesetzt, der Mathematiktreibende ist offen für moderne Werkzeuge. Die gleiche Sicht auf das Treiben von Mathematik steckt vermutlich hinter dem Begriff ‚Kreidezeit‘, der gern auf veraltete Veranschaulichungsmittel aus der vordigitalen Zeit im Rahmen von Unterricht hinweist.
Dieses verfehlte Bild von der Mathematik weist den Werkzeugen, die beim Treiben von Mathematik eingesetzt werden, eine ganz falsche Rolle zu. Wer das Wesen der Mathematik erkannt hat, weiß dass mathematischer Wissensgewinn nicht in erster Linie davon abhängt, welches Werkzeug zum Beispiel auf dem Wege zur Lösung eines Problems zum Einsatz kommt. Denn nicht das Werkzeug löst das Problem, sondern die Lösung findet im Kopf des Problemlösers statt. Das Werkzeug dient in erster Linie der Entlastung des Gehirns, indem es Zwischenschritte auf dem Weg zur Lösung fixiert. Auch dient das Werkzeug dazu, Objekte des Denkens zu veranschaulichen. Das Werkzeug dient in erster Linie dazu die Zeichen in ihrer Rolle als Denkmedium darzustellen. Das Medium, mit dem man Gedanken visualisiert, kann sich ändern. Die Araber haben im Sand geschrieben, die Chinesen auf Leder. Wir schreiben auf Papier, manche aber auch nur an die Tafel. Aus gutem Grund: Irgendwann sind ihre Gedanken so kompliziert, dass sie nicht mehr nur im Kopf zu überschauen sind.
Das gilt auch für die Umformung von Termen und Gleichungen und mehr noch für die Verwirklichung rekursiver Prozesse und die Darstellung ihrer Zwischenschritte sowie für geometrische Darstellungen. Das Werkzeug selbst ist dabei nie kreativ. Das war in Zeiten früherer Darstellungsmittel wie Stift und Papier, Stock und Sand, Federkiel und Leder oder Kreide und Tafel völlig klar. Nachdem heute hochentwickelte Computerprogramme zur Verfügung stehen, die vieles von dem bewältigen, was früher noch als kognitive Leistung galt, glaubt man, Computer seien kreativ. Zum Beweis lässt man den Computer Texte in Objekte der darstellenden Kunst transformieren. Der Output ist sicher für den Betrachter verblüffend – aber keinesfalls ein Beweis von Kreativität. Computer, die Bilder auf der Basis von Texten malen, sind zuvor mit einer Fülle von Bildern und Texten sowie Mechanismen zu Herstellung von Verbindungen zwischen Bildern und Texten gefüttert worden. Diese Datenmengen werden dann frei von Kreativität verarbeitet. Die Verblüffung, die man für ein Zeichen von Kreativität hält und die bei Betrachtung der computergenerierten Bilder entsteht, kann auch erzeugt werden, wenn man eine mathematische Fragestellung programmiert und den Computer eine Zeitlang daran arbeiten lässt. Der Mathematiker Michael Joswig bekennt: „Ich habe mal gemeinsam mit einem Doktoranden versucht, einen Satz zur Lösbarkeit bestimmter Polynomgleichungssysteme zu beweisen. Wir haben das per Induktion gemacht. Wir konnten vereinfacht gesagt zeigen, dass der Satz für alle Zahlen ab n+1 gilt, wenn er für die Zahl n gilt. Diesen Induktionsschritt haben wir per Hand gemacht. Aber uns fehlte der Anfang. Wir kannten keine Zahl n, für welche die Behauptung zutrifft. Wir hatten aber eine ungefähre Vorstellung, wo der Induktionsanfang liegen könnte. Und dann haben wir den Computer benutzt, um diesen Anfang zu finden, was uns tatsächlich gelungen ist.“
Der Computer ist sicher ein Werkzeug, das die Möglichkeiten die Mathematik voranzutreiben erheblich erweitert. Das geschieht aber frei von Kreativität, kognitiver Leistung oder Intelligenz, die in allen Fällen vom menschlichen Bediener der Arbeit des Computers hinzugefügt werden müssen. Und die Ausgangsfrage des Journalisten zu Beginn dieses Textes, ob Computer die Arbeit von Mathematikern verändert haben, ist in der Frage des Journalisten nach der Bedeutung von Stift und Papier nicht annähernd zum Ausdruck gebracht worden. Diese Frage resultiert aus einer Fehleinschätzung der Rolle von Werkzeugen im Rahmen mathematischer Untersuchungen.
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