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Nach Überzeugung einiger Didaktiker*innen, vieler Lehrer*innen und der meisten Schüler*innen kann man deshalb motiviert werden, Mathematik zu lernen, weil das Leben voller Anwendungen von Mathematik steckt. Dem soll nicht widersprochen werden, sondern nahegelegt werden, eine Unterscheidung vorzunehmen. Und zwar die Unterscheidung zwischen unmittelbarer Anwendungsorientierung und einer Anwendungsorientierung auf der Basis von Wissen, Können und Verstehen der theoretischen Grundlagen. Wittmann [1] nennt dies ‚intelligente Anwendungsorientierung‘.


Unmittelbare Anwendungsorientierung begegnet uns im real praktizierten Mathematikunterricht: Am Anfang steht das lebensweltliche Problem (oder auch ein konstruiertes Pseudproblem), dass dann in die Sprache der Mathematik übersetzt und als mathematisches Problem gelöst wird. In diesem Zusammenhang ist es (im real praktizierten Mathematikunterricht) zulässig, Pseudoanwendungen zu erfinden, die dem vorgeschriebenen Stoffplan genügen aber realitätsfern sind. Da werden Straßenverläufe zu kubischen Parabeln, weil Klothoiden nicht im Stoffplan vorkommen. Wittmann [1] zitiert Justus von Liebig:

Die Vereinigung der Schule mit der Erlernung des praktischen Betriebs oder des Handwerks zerstört ihr Wirken, welches so nützlich sein könnte; sie sind weder das eine noch das andere, weder Bildungsanstalten des Geistes noch gute Werkstätten, sie haben von beiden etwas, und von keinem das Rechte.


Liebig hat damit schon im 19. Jahrhundert erkannt, dass praktische Anwendung und schulische Unterweisung nicht parallellaufend gelingen können. Wittmann [1] selbst drückt das so aus:


Effektive Anwendungen der Mathematik beruhen auf innermathematischen Strukturen, die in ausreichendem Maße für sich gewürdigt und entwickelt werden müssen, da sie die unentbehrlichen Bausteine für Modellierungen bilden. Ohne mathematische Theorien gibt es keine effektiven Anwendungen.


Unmittelbare Anwendung trat in der Geschichte der Mathematik immer dann auf, wenn ein neues Problem aus der Lebenswelt mit mathematischen Mitteln gelöst werden sollte.


Intelligente Anwendungen setzen voraus, dass sich der Anwender zuvor die theoretischen Grundlagen angeeignet hat, die unerlässliche Voraussetzung einer Übersetzung praktischer Probleme in die Sprache der Mathematik sind. Mathematiker, welche neue Probleme mit Mitteln der Mathematik lösen, beherrschen die theoretischen Grundlagen. Mathematikunterricht soll bei den SuS in aller erster Linie solche Grundlagen legen. Dabei müssen unter anderen auch Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Verfügung stehen, deren lebensweltliche Bedeutung sehr gering ist. Als Beispiel nennt Wittmann die Bruchrechnung, welche lebenspraktisch von geringer Bedeutung ist, während ohne sie die Algebra in der Luft hängt. Und die Algebra ist gerade in Bezug auf Anwendungen von überragender Bedeutung. Eine anwendungsbezogene Bruchrechnung ist SuS erst möglich, wenn Grundlagen der Bruchrechnung zuvor (anwendungsfrei) vermittelt wurden. Die gleichzeitige Vermittlung mathematischen Inhalte und deren Anwendung stellt sich meisten sowohl als didaktischer als auch als methodischer Irrtum heraus (siehe Liebig).


Auch die nicht anwendungsbezogene Mathematik hat für viele Mathematiker einen Reiz. Mathematikhistorisch gesehen haben sich viele Anwendungen frei von jeder Anwendungsabsicht auf einem theoretischen Feld entwickelt. Dazu einige Begriffspaare:
Zahlentheorie – Verschlüsselung
Komplexe Zahlen – Wechselstromlehre
Riemannsche Geometrie – Relativitätstheorie.

Auch auf dem Niveau einer beliebigen Klassenstufe lassen sich Aufgaben finden, deren Resultat nicht angewendet werden kann, während die Aufgabe reizvoll sein kann.


Die Theorie braucht die Anwendung nicht notwendigerweise, aber die Anwendung braucht eine theoretische Grundlage. Theorie und Praxis sind zwei verschiedene Handlungsfelder, von denen die Theorie auch eigenständig entwickelt werden kann und oft auch muss, bevor die Anwendung in der Praxis überhaupt gelingen kann. Schulische Unterweisung muss sich zuallererst auf die Theorie des später möglicherweise angewendeten Stoffes richten. Nur auf dem soliden Hintergrund einer Theorie kann eine Anwendung in der Auswahl der geeigneten Handlungen und Grundlagen überhaupt gelingen.


[1] Erich Ch. Wittmann: ‚Von allen guten Geistern verlassen – Fehlentwicklungen der Bildungssystems am Beispiel Mathematik‘ in ‚Schule intakt‘ 04.08.2014

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