Was ist der Unterschied zwischen Begründen und Beweisen?
Jeder mathematische Beweis ist eine gute Begründung, aber eine Begründung beweist gar nichts. Fragt man ChatGPT, was der Unterschied zwischen Begründen und Beweisen sei, beschreibt er ‚Begründen‘ als die Rechtfertigung einer Idee, die durch geeignete Argumentation als richtig beschrieben wird. Demgegenüber müsse ‚Beweisen‘ das Gegenüber vollkommen überzeugen. So weit, so gut. Wie aber nutzt ChatGPT diese Unterscheidung selbst? Um dies herauszufinden, stellen wir eine Frage an ChatGPT:
Nenne mir ein Beispiel aus der Mathematik, bei dem Begründung und Beweis nicht identisch sind.
Die Antwort von ChatGPT:
Ein Beispiel aus der Mathematik ist die Aussage: ‚Die Quadratwurzel aus 2 ist irrational.‘
Begründung: Es gibt keinen Bruch, der die Quadratwurzel aus 2 genau darstellen kann, da die Wurzel aus 2 keine rationale Zahl ist. Diese Begründung beruht auf der Eigenschaft der Irrationalität.
Der Beweis für diese Aussage erfolgt durch einen Widerspruchsbeweis, bei dem angenommen wird, dass die Quadratwurzel aus 2 rational ist und dann gezeigt wird, dass dies zu einem Widerspruch führt. Dieser Beweis beruht auf logischen Schritten und Schlussfolgerungen, um zu zeigen, dass die Annahme falsch ist.
Kritik dieser Antwort: Die von ChatGPT zur Begründung genannte Eigenschaft von √2 ist ein doppelte Wiederholung eines Synonyms der zu begründenden Aussage. Das Prinzip eines Widerspruchsbeweises ist zutreffend wiedergegeben aber hilft für eine konkrete Beweisführung nicht wirklich weiter.
Ein Vorschlag für eine Begründung der Aussage ‚Die Quadratwurzel aus 2 ist irrational‘ wäre eine schrittweise, rationale Annäherung an √2 mittels Heron-Verfahren. Dann heißen die Näherungswerte \( \frac{3^{n}}{2^{2n-1}} \).
Ein hilfreiche Schilderung des hier geforderten Widerspruchsbeweises muss von der Annahme ausgehen √2=\( \frac{p}{q} \) mit natürlichen Zahlen p und q bei vollständig gekürzter Bruchdarstellung. Das ist deutlich hilfreicher als die von ChatGPT verwendete Annahme , dass die Quadratwurzel aus 2 rational ist‘.
Auch ChatGPT unterscheidet sinnvollerweise zwischen Absender und Empfänger einer Begründung oder eines Beweises. Weiterhin kann man bei ChatGPT das Bemühen um den Hinweis erkennen, dass ein vom Absender einwandfrei geführter Beweis eine Aussage für den Empfänger unwiderlegbar macht. Hinsichtlich der Begründung verfehlt ChatGPT den Hinweis, dass eine Begründung sich auf Argumente stützt, deren Evidenz von Sender und Empfänger gleichermaßen akzeptiert werden müssen. Sollte die gemeinsame Einsicht nicht gegeben sein, erkennt der Empfänger die Begründung nicht an. Wenn man so will, darf die Gültigkeit einer Aussage nach ihrem Beweis nicht mehr verhandelbar sein. Begründungen erfolgen indessen mit Formulierungen, die bei Zweifel auf Seiten des Empfängers noch überzeugender begründet werden müssen.
In der Schulmathematik treten an die die Stelle von Axiomen offensichtliche Gegebenheiten, Evidenzen. Wenn Schüler*innen angeblich Evidentes nicht akzeptieren können, werden sie in der Unterrichtspraxis meistens vom weiteren Diskurs zu dieser Frage ausgeschlossen. Dieser Mangel könnte durch den Übergang zu mathematisch exakter Beweisführung vermieden werden. Dieser Übergang würde allerdings erfordern, dass Mathematikunterricht axiomatisch untermauert wird. Das ist jedoch nicht vorgesehen.
Ein entdecktes Muster lässt sich oft leicht begründen und schwer beweisen. Ein Beweis für die Allgemeingültigkeit eines entdeckten Musters erfordert zunächst die Formulierung einer Hypothese die beschreibt, was entdeckt wurde. Die Hypothese muss ggf. noch formalisiert werden. Eine Beispielaufgabe:
Die n-te Zeile folgender Zahlentabelle nennt die ersten 7 Glieder einer arithmetischen Folge mit dem Startglied 1 und der konstanten Differenz d=n+1. Betrachte die Folge der Summen aller Eintragungen in die fett umrandeten Teilquadrate aufsteigend vom kleinsten bis zum größten. Was stellst du fest?
a) Begründe deine Feststellung.
b) Beweise deine Feststellung für alle derartigen Zahlentabellen
Lösung zu a)
Die Summenfolge in den fett umrandeten Teilquadraten 1, 9, 36, 100, 225, 441, 784 muss berechnet werden. Dann muss erkannt werden, dass es sich hier um eine Folge von Quadratzahlen handelt:
1 | 9 | 36 | 100 | 225 | 441 | 784 |
12 | 32 | 62 | 102 | 152 | 212 | 282 |
Anschließend muss die Folge der Basen 1, 3, 6, 10, 15, 21, 28 als Folge von Dreieckszahlen erkannt werden. Dann kann diese Hypothese formuliert werden:
Die Folge der Summen aller Eintragungen in die fett umrandeten Teilquadrate aufsteigend vom kleinsten bis zum größten ist die Folge der Quadrate der sogenannten Dreieckszahlen.
Lösung zu b) Im n-ten fett umrandeten Quadrat stehen die Summen \( \sum\limits_{k=1}^{n}{2k-1} \), \( \sum\limits_{k=1}^{n}{3k-2} \), \( \sum\limits_{k=1}^{n}{4k-3} \) , . . . , \( \sum\limits_{k=1}^{n}{(n+1)k-n} \) . Die Summe dieser Summen ist
(*) \( \sum\limits_{k=1}^{n}{\frac{(n+3)n}{2}k+\frac{(n+1)n}{2}} \) . Sie wird beispielweise mit Hilfe eines Computer-Algebra-Systems umgewandelt in \( \frac{n^2(n+1)^2}{4} \) .
Wenn eine Formel für Dreieckszahlen bekannt ist (was sie ja auch schon bei der Formulierung des Subtrahenden sein musste), liegt der Vergleich mit der Folge der Quadrate der Dreieckszahlen jetzt auf der Hand.
Eine andere Beispielaufgabe:
Dividiere 2n-1 – 1 durch n, was stellst du fest?
a) Begründe deine Feststellung.
b) Beweise deine Feststellung allgemein.
Lösung zu a)
n | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 |
\( \frac{2^{n-1}-1}{n} \)
| -1 | \( \frac{1}{2} \)
| 1 | \( \frac{7}{3} \)
| 3 | \( \frac{31}{6} \)
| 9 | \( \frac{127}{8} \)
| \( \frac{85}{3} \)
| \( \frac{511}{10} \)
| 93 | \( \frac{2047}{12} \)
| 315 |
Feststellung:
Wenn n>2 und 2n-1 – 1 durch n teilbar ist, dann ist n eine Primzahl.
Dies kann für n<341 gezeigt werden. Die Begründung ist damit recht überzeugend.
Lösung zu b)
Die unter a) genannt Feststellung kann nicht bewiesen aber widerlegt werden:
\( \frac{2^{340}-1}{341} \) =6568166399348399444449977362370804334667582103327 417990909058947107894050381703652143335757394742275 aber 341 ist nicht prim.
Fazit: Eine Begründung erfordert Konsens im Wahrheitsgehalt der Argumente (meist Evidenzen). Als Begründung genügt auch die Betrachtung einer Reihe von Beispielen. Je mehr Beispiele angeführt werden, desto überzeugender ist die Begründung. Ein Beweis erfordert Rückführung einer Hypothese auf Axiome und weitere wahre Aussagen sowie deren Transformation in andere Darstellungen innerhalb der Regeln eines festgelegten Darstellungssystems (hier den Regeln der Termumformungen). Wenn der Wahrheitsgehalt einer dieser Darstellungen geklärt ist, ist der Beweis gelungen. Sollte es einen Spezialfall geben, welcher eine falsche Darstellung der begründeten Hypothese liefert, so ist die Hypothese widerlegt. Es gibt Hypothesen, die überzeugend begründet werden können und nicht beweisbar sind. Beweise dagegen sind unwiderlegbare Begründungen.