Reelle Zahlen kennen wir alle aus der Schule: Irgendwie alle rationalen Zahlen und dann noch Dinge wie \( \mathrm e \), \( \pi \), \(\sqrt{2}\) - Zahlen eben, die man nicht als Bruch ganzer Zahlen darstellen kann. Alle endlich und unendlich langen Kommazahlen, "alle Zahlen". Lauter "Definitionen", die man in der Schule vorgesetzt bekommt, die zumindest so intuitiv sind, dass man sie akzeptiert. Aber wie kann man reelle Zahlen formell definieren? Wie kann man einen solchen Zahlenkörper konstruieren, der (zumindest für den Ottonormalverbraucher) "jede" Zahl enthält? Das ist aber tatsächlich gar keine so einfache Frage. Denn dafür müssen wir erstmal die Motivation hinter der Konstruktion von \( \mathbb R \) verstehen: \( \sqrt{2} \notin \mathbb Q \).
Warum reelle Zahlen?
Der Zahlenkörper \( \mathbb R \) ist eine Vervollständigung des Zahlenkörpers \( \mathbb Q \). Soll intuitiv heißen: Er enthält mehr Zahlen als \( \mathbb Q \) - aber was für Zahlen sind das? Kurze Antwort: Die irrationalen Zahlen. Lange Antwort: Beschäftigen wir uns ein bisschen mit rationalen Zahlen, erkennen wir schnell ein Problem: Es gibt Zahlen, die wir zwar beschreiben können, bei denen wir aber trotzdem einfach beweisen können, dass sie nicht rational (=als Bruch zweier ganzer Zahlen darstellbar) sind, etwa \( \sqrt{2} \) - die Zahl, die im Quadrat \( 2 \) ergibt. Das gibt uns zu verstehen, dass die rationalen Zahlen offenbar "Löcher" haben - zwar gibt es zwischen zwei rationalen Zahlen immer noch unendlich weitere rationale Zahlen, aber wir scheinen damit trotzdem nicht alles "abzudecken". Die Frage, die sich hierbei aber aufdrängt, ist wie wir diese Löcher beschreiben können. Sind es einfach alle Wurzeln aus Nicht-Quadratzahlen? (Nein.) Wie können wir in einem formalen Rahmen diese Löcher "hinzunehmen" und unser Zahlensystem damit vervollständigen. Die Antwort: Wir betrachten Cauchy-Folgen. Denn eine weitere Möglichkeit, eine "Zahl" zu beschreiben, ist, sie mit dem Grenzwert einer Folge zu identifizieren. Aber langsam.
Was ist eine Cauchy-Folge?
Dazu müssen wir erst (intuitiv und informell) klären, was überhaupt eine Folge ist. Das ist im Grunde aber auch gar nicht schwer zu erklären, denn Folgen sind einfach Folgen von Zahlen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese anzugeben, etwa können wir ein Tupel \((1, 5, 8, -3, 6, 2, \ldots)\) mit einer Folge \(a_n\) identifizieren und \( a_1 = 1, a_2 = 5, a_3 = 8, \ldots \) setzen. Diese Folge folgt keiner allgemeinen Bildungsvorschrift, aber das muss sie auch nicht - natürlich interessieren uns aber viel mehr keine so arg "zusammengewürfelten" Folgen, sondern eher welche, die wir kompakt anhand eines Bildungsgesetzes der Folgenglieder beschreiben können, etwa durch \( a_n = n^2 \). Dann ist \(a_1 = 1, a_2 = 4, a_3 = 9, \ldots \), wir haben also damit eine Folge der ganzen Quadratzahlen beschrieben. Herausheben will ich hier kurz den Unterschied zu einer Funktion: Folgen ordnen nur natürlichen Zahlen einen Wert zu und sind damit Folgen von Punkten in der Ebene, Funktionen hingegen ordnen jeder Zahl einen Wert zu und bilden so eine Kurve. Folgen sind also wirklich einzig und allein Abfolgen von Zahlen.
Der springende Punkt in diesem Thema ist dann der Begriff der Konvergenz: Wenn wir immer größere \(n\) einsetzen (also in der Abfolge der Zahlen immer weiter nach hinten gehen), nähern sich die Folgenwerte dann irgendwann einem bestimmten Wert an? Oder werden sie einfach nur immer größer oder kleiner? Betrachten wir zum Beispiel \( a_n = \frac{n}{n+1} \), erkennen wir etwas: Setzen wir immer größere \(n\) ein, nähert sich die Folge immer mehr der \(1\) an. Sie wird die \(1\) zwar nie erreichen (denn Zähler und Nenner werden nie gleich sein), aber kommt ihr immer näher, mit anderen Worten: Der Grenzwert ist \(1\) oder \( \lim_{n \to \infty} a_n = 1 \).
Rechnen wir aber ganz naiv mit Folgen rationaler Zahlen, erkennen wir schnell, dass es auch hier Folgen gibt, die gegen keine rationale Zahl, zum Beispiel wieder \( \sqrt{2} \), konvergieren (und solange wir uns nicht überlegt haben, was reelle Zahlen überhaupt sind, können wir sie natürlich auch nicht einfach so verwenden). Betrachten wir Folgen in \(\mathbb Q \), dann sagen wir nur, dass eine Folge konvergent ist, wenn der Grenzwert auch in \( \mathbb Q \) liegt - und das ist scheinbar nicht bei allen Folgen der Fall - auch wenn die Folgenglieder alle rational sind, kann es sein, dass sie sich einem Wert annähern, der nicht rational ist. Das führt uns (bzw. führt Herrn Cauchy früher) zum Begriff der Cauchy-Folge - wir wollen eine Eigenschaft von Folgen beschreiben, die der Konvergenz sehr nahe kommt, aber auch noch den Fall umschließt, dass der Grenzwert nicht im betrachteten Körper selbst liegt (denn wir wissen ja momentan noch gar nicht, was \(\sqrt{2}\) oder \(\pi\) für Sachen sind!).
Ganz intuitiv ist eine Cauchy-Folge einfach definiert als eine Folge, deren Folgenglieder sich immer mehr verdichten, eine Folge, bei der sich die Folgenwerte immer näher kommen, je weiter wir nach rechts gehen (also je größer das \(n\)) wird. Der Unterschied zum Begriff der konvergenten Folge: Hier ist überhaupt nichts über den Grenzwert selbst ausgesagt. Und offensichtlich ist eine Folge, deren Folgenglieder sich \(\sqrt{2}\) nähern, eine Cauchy-Folge, aber keine konvergente Folge in \(\mathbb Q\). Dass der Grenzwert selbst nicht im Körper liegt, juckt uns bei Cauchy-Folgen überhaupt nicht, denn es geht uns dabei ausschließlich darum, dass sich die Folgenglieder immer weiter verdichten. Offensichtlich ist aber jede konvergente Folge eine Cauchy-Folge (denn wenn die Folgenglieder einem Grenzwert für immer größere \(n\) immer näher kommen, dann ist es auch klar, dass der Abstand zwischen den einzelnen Folgengliedern immer kleiner wird. Umgekehrt gilt das aber offensichtlich nicht, wie wir gerade gesehen haben. So viel zur Theorie der Cauchy-Folgen. Jetzt können wir anfangen, die reellen Zahlen zu konstruieren.
Die Idee der Konstruktion
Die Idee ist jetzt, alle Cauchy-Folgen in \(\mathbb Q\) zu betrachten und damit neue Zahlen zu bauen, die wir mit dem "Grenzwert" der Cauchy-Folgen identifizieren. Wir haben gesehen, die rationalen Zahlen haben Löcher auf der Zahlengeraden und wir beschreiben diese Löcher jetzt einfach mit einer Cauchy-Folge, deren Folgenglieder genau diesem Loch immer näher kommen. Wir rechnen also eigentlich mit Folgen, wenn wir mit diesen ominösen "reellen Zahlen" rechnen. Das Problem: Es gibt zum Beispiel nicht nur eine Cauchy-Folge in \(\mathbb Q\), die \(\sqrt{2}\) immer näher kommt, unsere Definition wäre also nicht eindeutig. Die Lösung: Wir fassen alle Cauchy-Folgen, die gegen \(\sqrt{2}\) "gehen", in einer Klasse zusammen und genau diese Klasse beschreibt dann die Zahl \(\sqrt{2}\). Genauso machen wir es mit allen anderen Cauchy-Folgen auch. Das wirkt alles sehr abstrakt, ist es sicher auch, aber wir können es ohne Probleme machen. Aber werden wir konkret:
Sei
$$ \mathrm{CF}(\mathbb Q) := \{ (a_n)_n \subset \mathbb Q : (a_n)_n \text{ ist eine Cauchy-Folge} \} $$
die Menge aller Cauchy-Folgen in \(\mathbb Q\). In dieser Menge müssen wir jetzt aber noch alle Folgen zusammenfassen, die dieselbe Zahl beschreiben, also dem gleichen Wert immer näher kommen - das machen wir, indem wir definieren, wann zwei Folgen \( (a_n)_n, (b_n)_n \) äquivalent sein sollen, dafür schreiben wir \((a_n)_n \sim (b_n)_n\):
$$ (a_n)_n \sim (b_n)_n :\iff \lim_{n \to \infty} (a_n - b_n) = 0 $$
denn zwei Folgen kommen demselben Wert genau dann immer näher, wenn der Unterschied der jeweiligen Folgenglieder immer kleiner wird, im Grenzwert also \(0\) ist. Gilt also für zwei Folgen \((a_n)_n, (b_n)_n\), dass \((a_n)_n \sim (b_n)_n\), beschreiben die Folgen dieselbe Zahl in unserem neuen Zahlensystem. Diese Klassen von Folgen nennen wir Äquivalenzklassen - die Menge aller Folgen, die \(\sim\)-äquivalent zu \((a_n)\) sind, bilden die Äquivalenzklasse von \((a_n)_n\). Dadurch haben wir jetzt die Menge \(\mathrm{CF}(\mathbb Q)\) in verschiedene Klassen eingeteilt und jeweils eine Klasse beschreibt eindeutig (!) eine "reelle Zahl". Und jetzt kommt der zwar unspektakuläre, aber zentrale Schritt: Wir identifizieren jetzt einfach reelle Zahlen, so wie wir sie intuitiv kennen, mit jeweils einer Äquivalenzklasse. Die Menge \(\mathbb R\) ist also eigentlich keine Menge aus "Zahlen", sondern eine Menge aus Äquivalenzklassen - aber jede Äquivalenzklasse steht für eine Zahl. Und damit sind wir fertig und haben es geschafft, formal jede reelle Zahl zu beschreiben, nämlich als Äquivalenzklasse von Cauchy-Folgen. Im Anschluss müssen wir natürlich noch definieren, was es bedeutet, Äquivalenzklassen zu addieren, zu subtrahieren, zu multiplizieren, zu dividieren, aber das geht recht intuitiv, indem wir beispielsweise die Summe der Äquivalenzklassen von \((a_n)_n\) und \((b_n)_n\) einfach als Äquivalenzklasse von \(a_n + b_n\) definieren. Analog kann man das auch auf die Multiplikation übertragen und Subtraktion und Division sind dann einfach die entsprechenden Umkehroperationen.
Auf diese Weise sind die rationalen Zahlen in den reellen Zahlen "enthalten", denn wir haben reelle Zahlen ja als Äquivalenzklassen von Cauchy-Folgen rationaler Zahlen definiert - wenn wir also so ein \(q \in \mathbb Q\) beschreiben wollen, wählen wir einfach die konstante Folge \((q,q,q,\ldots)\) - diese ist sicher konvergent (gegen \(q\)) und damit auch sicher eine Cauchy-Folge, deren Äquivalenzklasse genau die Zahl \(q\) beschreibt.
Wofür der ganze Klatsch?
Man mag sich (zu Recht) nach dem Sinn dieser formellen, relativ komplizierten Definition eines Zahlenkörpers fragen. Der Punkt ist aber genau der, dass Mathematik aufbauend ist. Das System der Mathematik ist eine konstruierte Struktur, mit der sich wiederum Vorgänge aus der Natur, Physik, Chemie, etc. genau beschreiben lassen. Für etwas Fundamentales wie reelle Zahlen genügen deshalb intuitive, ungenaue Definitionen wie ganz am Anfang nicht. Beispielsweise gibt es in der Mathematik auch Strukturen, in denen die Rechengesetze wie man sie erwartet nicht gelten, in denen es beispielsweise Elemente \(a\) und \(b\) gibt, für die \(a + b\) etwas anderes ist wie \(b + a\) (formal: Strukturen, die nicht kommutativ sind). Deshalb ist es auch überhaupt nicht trivial, dass die reellen Zahlen kommutativ sind und muss erst bewiesen werden, um die besonderen Eigenschaften der reellen Zahlen herauszustellen. Das geht aber nicht, wenn die Definition nicht präzise und vollständig ist. Um sich ergebende Fragen in der höheren Mathematik zu beantworten, ist es essentiell, eine klare Definition von allem zu haben, auch von den reellen Zahlen, so intuitiv und "klar" manche Dinge auch erscheinen mögen.
Eine kleine Anmerkung zum Schluss: Ich weiß, dass viele Dinge hier genau nicht ganz präzise dargestellt sind. Das hätte ich machen können, aber zu Kosten der Verständlichkeit und Kürze. Ich habe versucht, so formal wie möglich zu sein, dass das Konzept trotzdem noch klar verständlich ist. Also ja: Viel bewusstes Handwaving hier.
Noch eine Anmerkung: Es gibt mehrere Weisen, die Struktur der reellen Zahlen zu konstruieren. Ich habe jetzt die gewählt, weil sie meiner Meinung am einfachsten zu verstehen und auch die Modernste ist. Wer interessiert ist, kann sich auch mal die Konstruktionen über Dedekindsche Schnitte oder die über Äquivalenzklassen von Intervallschachtelungen ansehen.