An der Argumentation gibt es einen großen Fehler, der ist nicht so einfach zu sehen, aber klärt die Sache sofort auf. Das Zitat ist in der Hinsicht richtig, dass \(R>1\) Wachstum und \(R<1\) Rückgang bedeutet, aber nicht, dass die Infektionszahlen sich wie eine Exponentialfunktion verhalten, sondern sie verhalten sich lokal wie eine Exponentialfunktion. Angenommen, du hast in einer perfekten Welt, wo du die perfekten Daten gemessen hast, an Tag \(t_0=0\) genau einen infizierten und eine Reproduktionszahl von \(R=2\) auf den Tag gerechnet für die ersten 10 Tage. Was ist die Anzahl der Infizierten nach dem zehnten Tag? Ziemlich simpel \(R^t = 2^{10}\). So, Achtung, jetzt kommt der springende Punkt! Angenommen, nach dem zehnten Tag ist die Reproduktionszahl durch irgendwelche Maßnahmen auf \(R' = 1.5\) gesunken, was ist die Anzahl der Infizierten nach dem 12. Tag? Es ist eben nicht \(1.5^{12}\) (wie deine Formel denkt), sondern \(2^{10}\cdot 1.5^2\), denn die ersten zehn Tage hast du ein Wachstum mit \(R=2\) und erst die letzten zwei Tage \(R'=1.5\). Was dein Graph vergleicht sind Bevölkerungen, die von Anfang an unterschiedliche Wachstumsraten hatten und sogar unterschiedlich lange beobachtet wurde, sie sagen also etwas komplett anderes aus als das, was du denkst.
Ich bin übrigens immer etwas vorsichtig wenn ich solche politisch suggestiven Titel sehe (sie sind zumindest zu 0% mathematisch, so etwas wie "Warum darf man nichts glauben?" à la "Die da oben lügen uns an"), denn beim Leser dieser Frage kommt es so an, als würdest du behaupten, dass sich tausende von Forschern deinen Einwand noch nicht selbst überlegt hätten und zum Schluss gekommen sind, dass er einen Denkfehler beinhaltet. Es ist immer möglich in der Wissenschaft, Fragen oder Kritik zu äußern, aber dann bitte nicht direkt in der Frage suggerieren, dass du dir (zu unrecht) 100% sicher mit deiner Überlegung bist und es unmöglich ist, dass du dich vertan hast, sondern mit etwas neutralerer Wortwahl.