Zu 1: Bedeutung von Parametern anschaulich machen
Die Darstellung verschiedener Graphenscharen mit Hilfe des CAS, verdeutlicht dem/er Schüler*in nachhaltig, welche Bedeutung bestimmte Parameter der Funktionsgleichung haben.
Bevor man allerdings Graphen elektronisch bereitstellt, muss je-dem Schüler und jeder Schülerin völlig klar sein, wie man die Graphen auch im vorelektronischen Zeitalter gewinnen konnte. In der heutigen Oberstufe wissen viele Schülerinnen und Schüler nicht, wie man zu einer durch einen Term gegebenen Stelle x = Term den zugehörigen Funktionswert f(Term) findet, ja nicht einmal, was f(a) überhaupt bedeutet und dass man das Ganze „f von a“ und nicht etwa „f mal a“ liest. Eine Schülerin oder ein Schüler mit derartigem Mathematikverständnis sagt ohne rot zu werden: „Der Graph einer Funktion ist das, was im Grafikfenster erscheint, wenn ich den Funktionsterm eingebe und dann auf Graph drücke.“ Das kann aber nicht das Ziel unseres Mathematikunterrichts sein.
Zu 2.: Hypothesen vermuten, widerlegen oder erhärten
Unsere Schulmathematik wird zunehmend ärmer an Themen, bei denen es um Hypothesen geht, die vor allem nach Berechnung ei-ner großen Datenmenge gefunden werden können und bei denen dann ein digitaler Rechner eine große Bereicherung darstellt. Hier liegt ein eigenartiger Widerspruch, dem kein Didaktiker bisher auf den Grund gegangen ist: Wenn die elektronischen Hilfsmittel für die Mathematik immer wichtiger werden, dann doch gerade in diesem Zusammenhang, der aber immer stärker aus dem Stoffplan verdrängt wird.
Es seien einige Beispiele genannt auf die Gefahr hin, dass kein Be-zug (mehr) zum realen Unterrichtsgeschehen existiert:
• Summenformeln für Reihen können zum Beispiel gefunden wer-den, indem man einer zuvor berechneten Teilsummenfolge ein Muster ansieht.
• Über Grenzwerte unendlicher Folgen und Reihen können anhand ihrer graphischen Darstellung sinnvolle Vermutungen aufgestellt werden.
• Dass die Längen von Diagonale und Seite eines Quadrats inkom-mensurabel sind, zeigt uns ein primitives Computerprogramm ein-dringlicher als alle Theorie.
• Auch das Entdecken und Verstehen sowie die Entwicklung von Ver-fahren in der elementaren Zahlentheorie werden durch digitale Werkzeuge wesentlich erleichtert.
Beim Letztgenannten denke man vor allem an modulare Betrach-tungen. Es gab Zeiten, in denen war der Begriff „Restgleichheit“ Unterrichtsgegenstand in der sechsten Klasse. Heute werden nicht einmal mehr Teilbarkeitsregeln erwähnt. Denn wir haben einen Knecht, der uns die Frage der Teilbarkeit in jedem Falle zuverlässig beantwortet. Aber soll sich nun wirklich Mathematikunterricht da-ran orientieren? Und passt das zu der großen Bedeutung, welche die modulare Arithmetik in jüngster Zeit gewonnen hat?
Zu 3.: Entlastung
Die Aufgabe 3,4561 · 7,2487 kann auch mit CAS gelöst werden, ohne dass die Mathematik dabei Schaden nimmt. Die Größenord-nung des Ergebnisses allerdings sollte feststehen, bevor ein Hilfs-mittel eingesetzt wird. Vom mathematischen ebenso, wie vom praktischen Standpunkt aus betrachtet, ist das genaue Ergebnis sogar uninteressanter als seine Größenordnung. Dass heute Schülerinnen und Schüler dazu neigen, jede noch so einfache Aufgabe mit Hilfe eines digitalen Werkzeugs zu rechnen, mag man bedauern, ist aber noch keine mathematische Sünde. Unverzeihlich wird die Sache erst dann, wenn unmittelbar sichtbare Ergebnisse (25 : 2,5 = 10) nicht gesehen werden und die dann einsetzende Tipperei von der eigentlichen Aufgabe ablenkt (ganz zu schweigen von der bedenkenlosen Weiterverwendung von Zwischenergebnissen, die durch Rundungen entstehen oder die sogar durch Bedienungsfehler entstellt wurden). Auch darf die intellektuelle Leistung, die darin liegt, ein Ergebnis zu „sehen“, nicht unterschätzt werden. Dieses „Sehen“ findet auf allen Ebenen statt und ist ein entscheiden-der Wesenszug des Mathematik-Treibens.
Rechengesetze müssen beherrscht werden, auch dann, wenn das Rechnen das CAS übernimmt. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen müssen die Rechengesetze als Mittel zur Rechenvereinfachung begriffen werden (man denke an den jungen Gauß und seine Summenformel für die ersten 100 natürlichen Zahlen). Zum zweiten benötigt man alle Regeln und Gesetze, die für Zahlen gelten im Rahmen der Schullaufbahn irgendwann auch für Terme (man denke an die Umformung eines Differenzenquotienten zum Zwecke der Grenzwertbetrachtung auf dem Weg zum Differentialquotrienten). Gerade hier könnte die Einführung von CAS in den Mathematikunterricht zu der Auffassung verleiten, dass die Regeln und Gesetze gar nicht mehr beherrscht werden müssen. Dann al-lerdings muss man die Frage vergessen: Wie wurde das in der vor-digitalen Zeit bewältigt? Darüber hinaus macht CAS nur Vorschläge zur Umformung, ohne dass die gewünschte oder aufschlussreiche Umformung in jedem Falle angeboten wird.
Zu 4.: Tafel-Ersatz
Die Zeiten der logarithmischen Berechnung trigonometrischer und anderer Größen sind mit der Einführung digitaler Werkzeuge im Mathematikunterricht vorbei und das ist auch gut so. Die allermeisten Wurzeln, Logarithmen, Sinus- und Kosinuswerte kennt niemand auswendig und ihr Nachschlagen in einer Tafel ist auch nicht geistreicher als ihr Aufruf im Display eines Rechners. Allerdings gilt hier fast das Gleiche wie im Absatz zuvor: Die Wurzel aus 64 und den Logarithmus von 8 zur Basis 2 muss schon deshalb ‚gesehen‘ werden können, weil auf diese Weise der Nachweis erbracht wird, die Begriffe „Wurzel“ oder „Logarithmus“ und deren mathematischen Gehalt wirklich verstanden zu haben. Es kann außerdem nicht schaden, geometrische Figuren zu kennen, welche bestimmte Sinus-, Kosinus- und Tangenswerte evident machen (30°, 45°, 60°, 90° und so weiter).
Zu 5. Rekursion
Rekursive Verfahren gewinnen mit Recht an Bedeutung. Computer und Taschenrechner sind hier die idealen Hilfsmittel und vor allem durch sie konnte die Bedeutung der Verfahren so groß werden. Nullstellen von Funktionsgraphen – um nur ein Beispiel zu nennen – lassen sich heute problemlos mit hoher Genauigkeit bestimmen. Dennoch sollten Schüler weiterhin in der Lage sein, die Nullstellen linearer Graphen und quadratischer Parabeln auch exakt und ohne Computereinsatz zu bestimmen.
Schüler sollen auch und gerade in diesem Zusammenhang lernen, unter verschiedenen Methoden sachgerecht auszuwählen und die Ergebnisse – etwa hinsichtlich ihrer Genauigkeit – zu bewerten. Als Lösung der Gleichung x² + 2x = 1 geben Schülerinnen und Schüler gern auch die Zahl 0,4142135623 an. Man sollte ihnen klar machen, dass dieses Ergebnis (auch hinsichtlich seiner Genauigkeit) von mathematisch geringer Qualität ist.
Rahmenrichtlinien und Kerncurricula verzichten heute einfach auf Themen aus dem „klassischen“ Mathematikunterricht, wie z. B. die propädeutische Elementare Zahlentheorie. Wer der Frage nach dem gemeinsamen Teiler großer Zahlen aber ausweicht, weil der Taschenrechner die Brüche addiert, beraubt die Schüler einer ganzen Reihe damit zusammenhängender tiefgreifender Erkenntnisse und Entdeckungen. Gerade die Entdeckung und Anwendung rekursiven Denkens bietet sich beim Thema „größter gemeinsamer Teiler“ unmittelbar an und steigert die Methodenkompetenz selbst junger Schülerinnen und Schüler ganz wesentlich. Generell bietet die Zahlentheorie ein weites Feld für Entdeckungen durch Schüler*innen.
Zu 6. Begriffsentwicklung
Der Begriff ‚irrational‘ zum Beispiel lässt sich mittels CAS-Einsatz besser verstehen, als dies mit den herkömmlichen Werk-zeugen erreichbar war. Das Gleiche gilt für Begriffe aus der Infinitesimalrechnung (Grenzwert, Steigung, Krümmung, Flächeninhalt, Differenzial). Vor jedem Kalkül muss die Wahl des besten Werkzeuges (Kopf oder Rechner) erfolgen. Rechenvereinfachungen werden nicht vom Rechner angeregt, sondern finden im Kopf statt. Rechengesetze dienen in erster Linie der Rechenvereinfachung und können durch den Rechner verschüttet werden, obwohl sie erlebbar machen könnten, wie mathematisches Wissen (auch Begriffswissen) gewonnen wird.
Zu 7. Historisches Interesse
Wie schon gesagt muss die Frage erlaubt sein: ‚Wie haben Mathematiker in vordigitalen Zeiten dieses oder jenes Problem gelöst?‘ Im Rahmen von Antworten auf derartige Fragen wird sehr viel über die Mathematik erfahren – insbesondere über das innerste Wesen der Mathematik und des Mathematik-Treibens. Wer nichts über dieses Wesen erfährt, kann die Mathematik schon deshalb nicht lieben, weil er zu wenig über sie weiß.
Die meisten Menschen haben heute folgendes verfehlte Bild von der Mathematik:
- Sie ist fertig vom Himmel gefallen und muss auswendig gelernt werden wie die Vokabeln einer Fremdsprache, die Zuordnung historischer Ereignisse zu Geschichtszahlen oder die geographische Benennung von Objekten auf unserer Erdoberfläche.
- Früher waren Stift, Papier, Tafelwerke und Rechenschieber die mathematischen Werkzeuge, heute ist es der Computer.
Dieses verfehlte Bild bedarf dringend der Korrektur.
Eine Ablehnung digitaler Werkzeuge im Mathematikunterricht hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Digitale Werkzeuge können zu einer wunderbaren Bereicherung des Mathematikunterrichtes beitragen. Zwei wichtige mathematische Tätigkeiten, nämlich ‚Mustererkennung‘ und ‚Repräsentationswechsel‘ erfahren durch den Rechner eine wertvolle Unterstützung. Rechner können große Datenmenge liefern, die etwa iterativ entstehen und denen ein explizites Muster innewohnt, das es zu entdecken und zu beweisen gilt. Rechner beherrschen den Repräsentationswechsel auf Knopfduck (Punktmenge, Graph, Funktionsterm/-gleichung) was das Finden von Beweisideen begünstigt.
Wenn man digitale Werkzeuge nicht zu Rechenknechten degradiert, sondern sie in ihrer Mächtigkeit wahrnimmt, könnten sie einen Mehrwert für den Mathematikunterricht liefern. Und selbstverständlich soll die Aufgabe √19·sin(32,5°) unbedingt mit dem digitalen Werkzeug ge-löst werden. Die Verfügbarkeit von CAS (und DGS) im Mathematikunterricht welche z. B. komplizierte Formeln auf Kopfdruck vereinfachen oder Skizzen dynamisch verändern kann und so den Weg zu weiteren Überlegungen und Entdeckungen ebnet und das Erlebnis mathematischen Wissens-gewinns vermittelt, ist zu begrüßen. Längst überfällig ist das Anlegen einer Sammlung von Aufgaben, für deren Lösung sich CAS in besonderer Weise eignet. Der Verfasser diese Artikels sammelt solche Aufgaben und ist für Anregungen dankbar.