Unter dem Link Empfehlungen1997.pdf findet man die niedersächsischen Empfehlungen für den Mathematikunterricht an Gymnasien und dort den Satz:
Das Finden von Kalkülen gehört […] zu den bedeutsamen Inhalten des Mathematikunterrichts.
An dieser Stelle der Empfehlungen sollte der Leser kurz innehalten und einmal rekapitulieren, wann und wo im Mathematikunterricht Kalküle gefunden werden mussten. Bereits unmittelbar nach dem Erwerb des Zahlbegriffes musste die Addition als erster Kalkül gefunden werden. Die Quantitäten von Objekten gleicher Qualität mussten zu einer neuen Quantität zusammengefasst werden. Man nannte diesen Vorgang in einer sehr kurzen Phase schulischen Mathematikunterrichtes ‚die Vereinigung von Mengen‘. Die Mächtigkeiten zweier Mengen von Objekten gleicher Qualität wurden zu Mächtigkeit der Vereinigungsmenge zusammengefasst. Sowohl die Mächtigkeiten der Ausgangsmenge als auch Mächtigkeit der Vereinigungsmenge wurden zu Zahlzeichen abstrahiert und die Zusammenfassung zweier Zahlzeichen zu einem resultierenden Zahlzeichen wurde als ‚Addition‘ bezeichnet und mit Hilfe weiterer Zeichen (+; =) dargestellt.
Weitere Operationen mit Zahlen bauten auf der Addition auf. Herausgehoben wird hier die Addition einer Anzahl gleicher Summanden, die Multiplikation. Im Zusammenhang mit der Multiplikation tauchte in der Lehrer-Schüler-Interaktion ein Postulat auf, dass in dieser Art einzigartig im gesamten schulischen Prozess des Findens von Kalkülen ist: „Das kleine Einmaleins muss auswendig beherrscht werden!“ Weder im Zusammenhang mit dem Vorgänger der Multiplikation – der Addition – noch im Zusammenhang mit ihrem Nachfolger – dem Potenzieren – wurde im Unterricht verlangt, etwa ein ‚Einspluseins‘ auswendig zu lernen - und nur sehr selten wird in der Mittelstufe verlangt, einige Anfangssequenzen von Potenzenfolgen auswendig zu lernen.
Die Didaktik sowohl bei der Addition als auch der Potenzrechnung geht offenbar davon aus, dass Begriffsvorstellung in den Köpfen der Schüler*innen geschaffen worden sind, welche nach einiger Übung den Umgang mit Additionsaufgaben oder Potenzbildungen automatisieren. Für den Fall, dass diese Automatisierung im Umgang mit Potenzen nicht gelingen sollte, wurde die auswendige Beherrschung von Potenzregeln postuliert. Auch deren auswendige Beherrschung könnte sicher durch einen geeigneten Begriffserwerb ersetzt werden.
Gänzlich überflüssig ist bei stärkerer Betonung der Bedeutung einer soliden Begriffserfassung die folgende Passage aus den niedersächsischen Empfehlungen für den Mathematikunterricht an Gymnasien:
Ein Mathematikunterricht aber, der die Verwendung von Kalkülen unter rein syntaktischen Gesichtspunkten in den Vordergrund stellt und zum Schwerpunkt macht, ermöglicht nie die hinreichende Erfahrung auch nur eines der beiden zentralen Aspekte; die Dominanz des Syntaktischen führt zu einer Entkopplung von Semantik und Pragmatik.
Einen Mathematikunterricht, der die Verwendung von Kalkülen unter rein syntaktischen Gesichtspunkten in den Vordergrund stellt, gibt es vermutlich gar nicht. Er wurde vermutlich konstruiert, um die Einführung digitaler Werkzeuge in den Mathematikunterricht zu legitimieren. Auch ein Mathematikunterricht, in dem das Abarbeiten von Kalkülen dominiert, dürfte schon immer eher die Ausnahme gewesen sein.
Zutreffend steht in den niedersächsischen Empfehlungen für den Mathematikunterricht an Gymnasien:
Ein Mathematikunterricht, in dem das Abarbeiten von Kalkülen dominiert, verfehlt […] sein Ziel, er macht wenig oder gar keinen Sinn. Strukturbildend für Unterricht darf nicht eine Hierarchie von Kalkülen sein, denen inner- und außer-mathematische Inhalte untergeordnet sind – quasi als Anwendung von Kalkülen – , sondern umgekehrt: […]
Das hieße, die Kalküle müssen der Erschließung inner- und außer-mathematischer Inhalte untergeordnet sein. Weiter heißt es:
Leitfäden müssen innermathematische Probleme und Theoriebildung und das sukzessive „Einfangen“ bedeutsamer Probleme der außermathematischen Realität sein.
An dieser Stelle bleibt unerwähnt, dass es im Mathematikunterricht auch um das „Einfangen“ bedeutsamer Probleme der innermathematischen Realität gehen sollte. Man denke hier an die Bedeutung von Zahlbegriff, Zahlzeichen und schließlich Stellenwertsystem bei dem so bedeutsamen Finden von Kalkülen. Die praktische Durchführung von Kalkülen kann grundsätzlich nur dann gelingen, wenn Zahlzeichen und Stellenwertsystem bereitstehen. Das Ersetzen eines fehlenden Stellenwertsystems geschah schon bei den Babyloniern durch fortgesetztes Verdoppeln und Halbieren – also letztlich durch die Erfindung des binären Systems.
Weiter heißt es in den niedersächsischen Empfehlungen für den Mathematikunterricht an Gymnasien:
Taschencomputer mit ihren grafischen, numerischen und algebraischen Möglichkeiten unterstützen dabei die zentrale Behandlung beider Aspekte (Syntax und Semantik), weil ihre entlastende Funktion bzgl. des syntaktischen Bereichs (Termumformungen usw.) das verstärkte Herausarbeiten des semantischen und pragmatischen Gehalts mathematischen Handelns ermöglichen.
Jetzt sind die Empfehlungen da angekommen, wo sie hinwollten. Deshalb fehlte der Hinweis auf den innermathematischen semantischen und pragmatischen Gehalt mathematischen Handelns.
Neben den bereits erwähnten innermathematischen Themen ‚Zahlzeichen‘ und ‚Stellenwertsysteme‘ soll zum Schluss noch auf das Thema ‚Zahlbereichserweiterungen‘ eingegangen werden. Diese ergeben sich im Rahmen des Kalküls (Termumformungen, Gleichungslehre) geradezu zwangsläufig. Und besonders die Erweiterung von den rationalen auf die reellen Zahlen ist kulturhistorisch und semantisch von großer Bedeutung. Insbesondere sei auf die irrationalen Konstanten π und e hingewiesen. Praktisch ist diese Erweiterung nahezu bedeutungslos. Wer braucht schon die Kreisfläche auf Millionstel mm2 genau? Zum Erkennen der kulturellen Leistung der Entdeckung der irrationalen Zahlen muss dann allerdings das digitale Werkzeug aus der Hand gelegt werden, um den semantischen und pragmatischen Gehalt neuer Zahlbereiche und irrationaler Konstanten zu erfassen.