Vor einigen Tagen wurde in der Mathelounge eine Frage zu Freudenthals ‚Klassifizierung von Variablen nach der Art ihrer Verwendung‘ gestellt. Freudenthals Klassifizierung geschah vor einem halben Jahrhundert. Das ist lange her und die Mathematik – auch die Schulmathematik – hat sich verändert und es stellt sich die Frage, ob Freudenthal hier noch zitiert werden muss oder gar Gegenstand didaktischer Vorlesungen sei sollte. Freudenthals Klassifizierung sah so aus:
Unbestimmte
Die Variable steht für ein nicht bekanntes Objekt, das zu bestimmen nicht näher interessiert.
Für die Variable können z.B. beliebige Zahlen eingesetzt werden und jedes Mal ergibt sich eine wahre Aussage (z.B. bei allgemeinen Regeln, Rechengesetzen, der Beschreibung von Beziehungen).
Unbekannte
Die Variable steht für ein Objekt (Zahl bzw. Term), das noch unbekannt ist, prinzipiell aber bestimmt werden kann.
Veränderliche
Variable in funktionalen Zusammenhängen, in denen tatsächlich etwas variiert wird bzw. in denen die Veränderung betrachtet wird.
Inzwischen wurden diese Begriffe im Mathematikunterricht präzisiert und in ihrer Bedeutung verschoben. Der Begriff ‚Variable‘ hat im Rahmen heutigen Mathematikunterrichtes die Bedeutung, welche bei Freudenthal mit ‚Veränderliche‘ bezeichnet wird. Was Freudenthal wohl beabsichtigte, war eine Unterscheidung von Perspektiven auf eine Größe, die bei ihrer ersten Wahrnehmung noch nicht konkretisiert ist und die im Laufe weiterer Betrachtungen ganz unterschiedliche Interpretationen erhalten kann. Ein möglicher Begriff für eine solche Größe könnte heute ‚Platzhalter‘ sein.
Kritik
Es geht Freudenthal also offenbar um Perspektiven auf mehr oder weniger konkrete Größen. Aus heutiger Sicht ergibt sich eine etwas andere Klassifizierung solcher Größen:
Unbestimmte Größe
Eine noch nicht konkretisierte Größe, welche charakteristische Merkmale besitzt und deren Beziehung zu anderen noch nicht unbedingt konkretisierten Größen formal beschrieben werden kann. In der heutigen Terminologie geht es hier offenbar um ‚Parameter‘. Keinesfalls ergibt sich für jede Belegung der Parameter eine wahre Aussage, wie Freudenthal schreibt.
Exemplarische Unterrichtssituationen, in denen die Parameter (die unbestimmten Größen) diesen Charakter haben:
- Beweisen (Herleierten) der Flächeninhaltsformel für ein Trapez auf der Grundlage der bekannten Flächeninhaltsformel für ein Parallelogramm.
- Beschreibung von Prozessen.
- Modellierung von Sachverhalten.
Unbekannte Größe
Größe im Rahmen eines konkreten mathematischen Problems, die erst im weiteren Verlaufe ihrer Betrachtung bestimmt werden kann.
Exemplarische Unterrichtssituationen, in denen (unbekannte) Größen diesen Charakter haben:
- Aufgaben mit dem Ziel ein Verfahren oder eine Formel auf eine gegebene Situation anzuwenden.
- Der überwiegende Teil der Übungsaufgaben in Lehrbüchern.
Veränderliche Größe
Hier wird heute unterschieden zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen im Rahmen eines funktionalen Zusammenhangs.
Exemplarische Unterrichtssituationen, in denen Variable betrachtet werden:
- Kurvendiskussionen,
- Kurvendarstellungen,
- Beschreibung von Prozessen,
- Optimierungsaufgaben.
Insgesamt fällt auf, dass die Unterscheidung zwischen unbestimmten und veränderlichen Größen inzwischen nicht mehr in jedem Falle möglich ist. In Unterrichtssituationen, in denen es gilt, Prozesse zu beschreiben, sind die behandelten Größen oft gleichzeitig unbestimmt und veränderlich. Nachdem das Modellieren ein bedeutenden Anteil am schulischen Treiben von Mathematik gewonnen hat und die Terminologie im Mathematikunterricht präzisiert wurde, muss Freudenthals Klassifizierung als überholt angesehen werden.