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Der Mensch lernt ein Leben lang. Sehr oft liegt dem Lernen eine Erfahrung zugrunde, die einer Erklärung bedurfte. Solange die Erklärung nicht vorliegt, kann das Erklärungsbedürftige als Hypothese formuliert werden. Ein Beispiel:

Das Teilen wird normalerweise als Zerteilen oder Verteilen interpretiert. Ein größeres Ganzes, das g Einheiten umfasst, wird in eine Anzahl von n kleineren Teilmengen zerlegt. Wenn diese Teilmengen gleichgroß von der Größe m Einheiten sind, so notieren wir in mathematischer Stenografie: g:n=m (oder auch g:m=n). Sowohl m als auch n sind kleiner als g. Das ‚zu Teilende‘ g heißt (lat.) Dividend und das, wodurch geteilt wird (z.B. n) heißt (lat.) Divisor. Das Resultat der Teilung (im Bsp. m) heißt Quotient. Die Erfahrung lehrt, dass der Quotient kleiner ist als der Dividend. Dann erlebt der mit dieser Erfahrung ausgerüstete Mensch, dass 4:2/3=6 gilt. Die neue Erfahrung, dass der Quotient hier größer ist als der Dividend, bedarf einer Erklärung. Die Erklärung könnte lauten, dass hier das Ganze nicht in Einheiten zerteilt wird, sondern in echte Bruchteile von Einheiten. Gelernt wird mit dieser Erklärung, dass das Teilen in echte Bruchteile von Einheiten zu einem Quotienten führt, der größer ist als der Dividend.


Dieser Prozess, in dem ein Mensch angesichts einer als problematisch oder erklärungsbedürftig empfundenen Erfahrung eine erklärende Hypothese bildet, heißt bei Charles S. Peirce (1839-1914) „Abduktion“ und leitet gegebenenfalls ein „abduktives Schließens“ ein. Für das Lehren und Lernen von Mathematik in der Schule bedeutet abduktives Schließen, dass Lernen entscheidend davon abhängt, dass erstens Repräsentationen von den jeweils gegebenen Problemen konstruiert werden, zweitens Experimente mit diesen „Diagrammen“ durchgeführt werden und drittens die Resultate solcher Experimentierens beobachtet werden. (Ein Diagramm ist bei Peirce eine Darstellung, welche Beziehungen zwischen Zeichen mit den Mitteln eines konsistenten Darstellungssystems repräsentiert.) Eine derartige Repräsentation der Aufgabe 4:2/3 wäre eine Anzahl von Gefäßen mit je 2/3  Liter Fassungsvermögen aufzustellen und die Aufforderung, 4 Liter Flüssigkeit in diese Gefäße zu füllen. Weitere Experimente sind möglich, wenn andere Ausgangsmengen statt der 4 Liter gewählt werden oder auch indem das Fassungsvermögen der aufgestellten 2/3-Liter-Gefäße variiert wird. Die Beobachtung der Resultate dieser Experimente sollte dann in die Formulierung eines Beobachtungsergebnisses einmünden.

Lerntheoretisch sind für solche Diagrammatisierung drei Punkte wesentlich: Erstens wird auf diese Weise überhaupt erst sichtbar, worum es jeweils geht. So kann auch das eigene Denken und Fühlen zum Gegenstand der Betrachtung werden. (Im geschilderten Beispiel wurde der Gedanke: ‚Der Quotient ist kleiner als der Dividend‘ Gegenstand einer Betrachtung.)  Zweitens wird diese Sichtbarkeit notwendig schon unter einer bestimmten Perspektive hergestellt, denn jede Konstruktion von Darstellungen ist auf Darstellungsmittel angewiesen. Derartige Mittel sind hier eine Flüssigkeitsmenge und eine Anzahl von Gefäßen gleicher Größe. Solche Darstellungsmittel sind ihrer Leistungsfähigkeit immer begrenzt. Und drittens – und das ist für das „Experimentieren“ mit Diagrammen entscheidend – unterwirft man sich mit der Wahl eines bestimmten Darstellungssystems bestimmten – impliziten oder expliziten – Regeln dieses Systems. Im Beispiel werden diese Regeln mit der Aufgabenstellung genannt: Alle gleichgroßen Gefäße sind randvoll zu gießen und die dafür verwendete Ausgangsmenge liegt fest und darf innerhalb eines Experimentes nicht verändert werden. Resultat ist die Anzahl der gefüllten gleichgroßen Gefäße.
Noch deutlicher werden solche Regeln in Beispielen mathematischer Problemlösung, wo man Gleichungen nicht beliebig umformen darf, oder ein geometrisches Objekt nur nach vorgegebenen Regeln verändert werden darf. Aber auch wenn wir etwas in unserer Alltagssprache darstellen, müssen unsere Darstellungen der Grammatik unserer Sprache - also festen Regeln - genügen. Wenn wir begründen und argumentieren muss jede Transformation einer Darstellung bestimmten Rationalitätsstandards genügen. Diesbezüglich soll allgemein von den Regeln eines Darstellungssystems gesprochen werden, deren Zweck es ist zu definieren, was als zulässiges Experiment mit einem Diagramm oder einer Darstellung akzeptiert wird und was nicht. Im Mathematikunterricht werden die Regeln der dort gewählten Darstellungssysteme genannt und müssen akzeptiert werden, wenn man erfolgreich am Unterricht teilnehmen möchte.

In der Mathematik erzeugt jede Transformation eines Diagrammes im Grunde immer nur Tautologien. Wie soll dann aber etwas „Neues“ entstehen? Zu dieser Paradoxie ist zweierlei zu sagen: Zunächst definieren solche Regeln ja nur, was erlaubt ist, aber sie sagen nichts darüber aus, welche Transformationen von Diagrammen im beabsichtigten Sinne erfolgreich sind. Der entscheidende Punkt wird aber deutlich, wenn wir uns die eigentliche Funktion einer Diagrammatisierung des Denkens vor Augen halten: Sie kann darin gesehen werden, dass Probleme, die zunächst als unlösbar erscheinen, Stück für Stück aus ihrer für den Lernenden als komplex erscheinenden Struktur herausgelöst werden. Man kann das als Aufforderung an Schülerinnen und Schüler folgendermaßen formulieren: Stelle erst mal auf deine Art dar, was Du von dem Problem (Größenvergleich Quotient/Dividend) verstanden hast, und dann sehen wir weiter.


Im gewählten Beispiel ist eine mathematisch-stenographische Darstellung, die hier vom Schüler verlangt wird, seine Frage:
‚Kann in der Aufgabe g:n=m auch m>g gelten?‘ 
Danach kann sich folgende Transformationskette ergeben:
(1) Gibt es ein k>0 sodass m=g+k und dann g/n=g+k?
Weiter mit Regeln aus der Gleichungslehre:
(2) n/g=1/(g+k)
(3) n=g/(g+k).
An dieser Stelle muss nun gesehen werden, dass für k>0 der Divisor n ein echter Bruch ist. Dann wird das Ergebnis sprachlich zum Beispiel so formuliert:
(4) Der Quotient ist größer als der Dividend, wenn der Divisor n ein echter Bruch ist.


Eine Darstellung kann - wie wir im Beispiel gesehen haben - auch durch ikonische Zeichen erfolgen. Ein „Ikon“ ist nach Peirce dadurch definiert, dass es dem Dargestellten „ähnlich“ ist. Ein Diagramm wiederum ist etwas, das Beziehungen zwischen Zeichen mit den Mitteln eines konsistenten Darstellungssystems repräsentiert (siehe oben). Insofern ist auch jeder Satz, der in einer Sprache formuliert wird, ein Diagramm. Eine wesentliche Eigenschaft aller ikonischen Zeichen aber ist, dass sie Assoziationen erlauben, dass sie bestimmte andere ikonisch darstellbare Ideen hervorrufen (im Beispiel die Umformung von Gleichungen in andere Gleichungen nach den Regeln der Gleichungslehre). Wenn also bei der Lösung eines zunächst unlösbar erscheinenden Problems erst einmal irgendeine diagrammatische Darstellung gefunden ist, dann bietet diese immer auch weiter gehende Transformationsmöglichkeiten an, die das Problem zunehmend handhabbarer machen und schließlich möglicherweise lösen.

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Hallo

Ganz hab ich nicht kapiert, was dein Artikel soll, aber ich muss grade Wut abladen und nahm die Gelegenheit:

Ist das auch ikonisch?

http://schule-mathematik.blogspot.com/2023/09/herr-schneider-erklart-die-welt.html

Mir gruselt vor solchen Schulbüchern

lula

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Hallo lul, ganz hab ich nicht kapiert, was dein Kommentar soll. Wer oder was ist 'das' im Satz 'Ist das auch ikonisch?' 

Sorry. das waren die Spiegeleier für die ganzen Zahlen auf Seite 2 des links, ich dachte ich hätte nur das Bild gelingt-

Das Bild mit Teller/Spinat/Spiegelei entspringt dem Hirn einer/s Schulbuchautorin/-autors und ist - wie so oft in Schulbüchern - didaktisch und methodisch wertlos.

Mein Artikel soll dazu anregen, über Methodik und Didaktik der Mathematik nachzudenken - damit so ein Unsinn vermieden wird.

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