Formen des Wissens
Die Didaktik unterscheidet drei Formen des Wissens:
- Deklaratives Wissen.
- Prozedurales Wissen.
- Situatives Wissen.
Im Folgenden sollen drei Aussagen darauf geprüft werden, welches Wissen sie wiedergeben.
A= Eine Strecke ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten.
B= 1, 8, 27, 64 sind die vier kleinsten Kubikzahlen.
C= Jeden Morgen geht die Sonne auf.
deklaratives Wissen,
auch: Sachwissen oder ‚Wissen, was ist …?‘. Das lateinische Verb ‚declarare‘ wird im Deutschen mit ‚verkünden/erklären‘ übersetzt, wobei in diesem Zusammenhang die Betonung auf ‚verkünden‘ liegt. Vor allem Begriffserklärungen (Definitionen) können deklaratives Wissen wiedergeben. Aussage A ist dann deklaratives Wissen, wenn damit die Definition des Begriffes ‚Strecke‘ gemeint ist. Deklaratives Wissen ist auswendiges Wissen, dass auch sinnentleert oder ohne einen Zusammenhang wiedergegeben werden kann (z.B. Aussage A). Aussage B ist nur dann deklaratives Wissen, wenn sie auswendig gewusst wird. Das gleiche gilt für Aussage C, wenn diese nicht auf der Basis täglicher Erfahrung gemacht wird.
prozedurales Wissen,
auch: Handlungswissen, W. Genau genommen versteht man unter prozeduralem Wissen Beschreibungen von Verfahren und Prozeduren zur Konstruktion, Verknüpfung und Anwendung von (deklarativem) Wissen. Abgespeicherte ‚Wenn-Dann-Regeln‘ enthalten sowohl eine Bedingungskomponente (das „Wenn”) als auch eine Aktionskomponente (das „Dann”). In seiner weiteren Bedeutung als Handlungswissen enthält das prozedurale Wissen v.a. Wissen darüber, in welchen Situationen und aus welchem Grunde man auf Wissensteile zugreifen und diese anwenden kann. Aussage A ist dann prozedurales Wissen, wenn unter verschiedenen Verbindungen zweier Punkte die Strecke zwischen diesen Punkten herausgesucht werden kann. Aussage B ist dann prozedurales Wissen, wenn 1ˑ1ˑ1=1; 2ˑ2ˑ2=8; 3ˑ3ˑ3=27 und 4ˑ4ˑ4=64 gerechnet wird. Aussage C kann kein prozedurales Wissen sein, weil für dieses Wissen auf keine Handlung der/des Wissenden hinweist außer auf den täglichen Blick an den Himmel, der aber zu situativem Wissen führt.
situatives Wissen
Dieser Terminus entsteht im Zusammenhang mit der philosophischen Auffassung, in der Subjekte nicht von ihrer Umgebung getrennt werden können, sondern stets damit verbunden und darin verkörpert sind.
Aussage A ist dann situatives Wissen, wenn Erfahrungen mit den Objekten und ihren Verbindungen sowie den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften (etwa einer Größe) vorliegen. Der Nachweis, über situatives Wissen zu verfügen, kann nicht durch bloße Deklaration erfolgen, wohl aber in Form einer Prozedur (etwa indem man die Strecke zwischen zwei Punkten zeichnet). Der Unterschied zu prozeduralem Wissen wird nicht deutlicher, wenn man die Nennung von Eigenschaften (etwa der Länge der Strecke) verlangt. Das daraufhin erfolgende Messen der Streckenlänge ist eine Prozedur und weist gleichzeitig situatives Wissen nach. Der Terminus ‚situatives Wissen‘ beschreibt im Kern eine philosophische Auffassung über prozedurales Wissen.
Aussage B ist entweder auswendig gelernt (dann enthält sie deklaratives Wissen) oder sie beruht auf den Prozeduren 1ˑ1ˑ1=1; 2ˑ2ˑ2=8; 3ˑ3ˑ3=27 und 4ˑ4ˑ4=64. Das prozedurale Wissen löst dann das situative Wissen aus.
Es ist auch möglich, dass situatives Wissen als Folge hypostatischer Abstraktion (zu Deutsch etwa: vergegenständlichender Verallgemeinerung) entsteht. Ein Gedanke wird so verdichtet oder verallgemeinert (abstrahiert) dass er zum Gegenstand eines weiterführenden Gedanken werden kann. Zum Beispiel kann das Wissen zum Zahlbegriff so sehr verinnerlicht sein, dass Operationen mit Zahlen durchführbar werden.
Aussage C schließlich ist nur als situatives Wissen vorstellbar, weil sie eine Erfahrung beschreibt und nicht erklärt. Die meisten Erfahrungen werden an eine Handlung gekoppelt erlebt und später von dieser Handlung wieder entkoppelt. Die Handlung, welche zu situativem Wissen geführt hat, lässt sich von diesem Wissen trennen, ohne dass das Wissen verloren geht. Mathematikdidaktisch gesehen enthält die Bezeichnung ‚abstrahiertes Wissen‘ gegenüber der Bezeichnung ‚situatives Wissen‘ bereits den für die gesamte Mathematik zentralen Begriff der Abstraktion.
Als Fazit dieser Betrachtungen bleibt festzuhalten, dass die genannte Aufteilung in Wissensformen in der Mathematikdidaktik zu Schwierigkeiten in ihrer Abgrenzung gegeneinander führt. Manchmal ist eine Wissensform der Auslöser einer anderen oder muss explizit von einer anderen abgetrennt werden, bevor sie eindeutig identifiziert werden kann. Um solche Schwierigkeiten zu vermeiden, kann man Wissensformen in der Mathematikdidaktik besser unterscheiden, indem man sie auf den Vorgang des Lernens bezieht:
- auswendig gelerntes Wissen,
- verstandenes Wissen,
- abstrahiertes Wissen.
Dann ersetzt das auswendig gelernte Wissen dieser Unterscheidung das deklarative Wissen in der üblichen Unterscheidung und das verstandene Wissen entspricht ziemlich genau dem prozeduralen Wissen. Das Ersetzen des Begriffes ‚situatives Wissen‘ durch den Terminus ‚abstrahiertes Wissen‘ greift den Begriff der Abstraktion auf, der – wie gesagt – für die Mathematik zentral ist. Die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Begriffe ‚situativ‘ und ‚prozedural‘ gegeneinander werden damit vermieden. Die Begriffe ‚verstehen‘ und ‚abstrahieren‘ sind deutlich leichter gegeneinander abzugrenzen.