Ein mathematischer Sachverhalt kann nach J. Bruner auf drei verschiedene Arten dargestellt werden:
- enaktiv, d.h. handelnd,
- ikonisch, d.h. bildlich,
- symbolisch, d.h. verbal oder formal.
Diese derart konsequente Trennung von Darstellungsformen macht bei näherem Hinsehen aus der Perspektive der Didaktik keinen Sinn. Zum Beispiel werden im Rahmen formaler Darstellungen manchmal Bilder eingesetzt. So wird die Parallelität zweier Geraden oft durch g||h formalisiert und die Fläche eines Dreiecks mit A∆ angegeben. Wann ist die Zeichnung eines Dreiecks ein Bild und wann ein Symbol? Die Semiotik (Peirce) kennt Bruners Unterscheidung nicht und verwendet für alle mathematischen Darstellungen den Terminus „Diagramm“ und meint damit einen Sammelbegriff für Zeichnungen, (Ketten von) Symbolen, Skizzen, Diagramme und sogar Texte.
Das Problem der mangelnden Unterscheidbarkeit von enaktiver, ikonischer und symbolischer Repräsentation verschärft sich beträchtlich, wenn man zwischen dem Prozess und dem Produkt einer Darstellung unterscheidet. Ist das Produzieren einer ikonischen oder symbolischen Darstellung nicht auch eine „Handlung“? Warum sollten das konstruktive Erstellen oder das Verändern einer Zeichnung, das Formulieren einer Aussage und das Erzeugen eines Textes keine Handlungen sein? Ist es wirklich sinnvoll, den Handlungsbegriff auf das Manipulieren konkreter Objekte zu beschränken? Oder muss man nicht im Fall einer Arbeit mit konkretem Material zumindest die Modellvorgabe sowie das Handlungsergebnis, vielleicht auch einige Zwischenzustände wegen ihres statischen Charakters als „Bilder“ auffassen?
Der entscheidende Mangel von Bruners Repräsentationstheorie scheint jedoch in der fehlenden Unterscheidung zwischen externen, wahrnehmbaren Aspekten der Repräsentation und den mit diesen verbundenen internen, mentalen Prozessen zu liegen. Diese Prozesse kommen bei ihm kaum in den Blick; doch scheinen gerade sie für das Mathematiklernen von entscheidender Bedeutung. Es kann für den Wissensaufbau nicht unerheblich sein, ob materialgebundene Handlungen gleichsam blind als instrumentelles Tun ausgeführt werden oder ob der Lernende sie systematisch beobachtet, analysiert und interpretiert sowie theoriegeleitet beschreibt und expliziert. Ein Bild bzw. eine Zeichnung kann als statisches Objekt wahrgenommen oder aber auf Regelmäßigkeiten und andere Beziehungen hin untersucht, in Teile gegliedert oder aus Teilen zusammengefügt betrachtet, kurz mental „behandelt“ werden. In diesem Zusammenhang seien zwei fundamentale mathematische Tätigkeiten genannt: „Repräsentationswechsel“ oder das Umwandeln einer Darstellung in eine andere sowie ‚Mustererkennung‘ oder das Auffinden struktureller Gemeinsamkeiten in einer Menge von vergleichbaren Darstellungen.
Umgekehrt: Das Hervorbringen oder Lesen einer sprachlichen Darstellung kann sich ganz und gar auf syntaktische Imitation und Manipulation beschränken; d. h. es ist keineswegs zwingend, dass der Lernende solche Repräsentationen mit Modellen und Modellhandlungen zu verbinden weiß und dass die Sprache für ihn bedeutungshaltig ist bzw. eine semantische oder pragmatische Dimension aufweist.
Mathematik-Lernen erfordert vor allem das Erfassen von Begriffen und jeder Begriff wird umso mehr verinnerlicht und ausgefüllt, je mehr verschiedene Darstellungen man dafür kennt. Der Begriff ist dann quasi die Verschmelzung aller seiner Darstellungen und kann beim Einbau in einen weitergehenden Gedanken als sogenanntes „Superzeichen“ zum Gegenstand des Denkens werden. Die Semiotik nennt dies „hypostatische Abstraktion“ (deutsch: vergegenständ-lichende Verallgemeinerung).
Der Semiotiker Peirce beschreibt mathematisches Beweisen als ‚diagrammatisches Schließen‘. Damit meint er eine mathematische Handlung, die in drei Schritten abläuft: Die „Abduktion“ ist das Entdecken eines Sachverhaltes (etwa durch Mustererkennung) und seine Darstellung in Form einer Hypothese. Die „Deduktion“ verwandelt die Darstellung der Hypothese gemäß den Regeln eines Darstellungssystems (Repräsentationswechsel). Insbesondere Beweise in der Algebra erfordern hier genaue Kenntnis der Regeln und Gesetze, welche zulässige Umformungen festlegen. Und im Zuge der Induktion findet der Mathematik-Treibende unter den Darstellungen eine, die als wahr anerkannt wird (z.B. bewiesener Satz, selbstverständliche Tatsache) oder eine, deren Wahrheit leicht nachweisbar ist.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Semiotik einen weniger angreifbaren sowie deutlich größeren und überzeugenderen Beitrag zur Didaktik der Mathematik leistet, als Bruners Repräsentationstheorie. Daher ist es unverständlich, dass in der didaktischen Literatur Bruner deutlich häufiger zitiert wird, als Peirce.