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In unregelmäßigen Abständen stoße ich auf den Satz: „Mathe kann jeder.“ Das entspricht nicht meinen Erfahrungen. In der ersten Berufsjahren als Mathematiklehrer begegnete mir ein zehnjähriges Mädchen, dem ich ein Stück Draht vorlegte mit der Aufgabe, es ohne Hilfsmittel so zu verbiegen, dass es genau den Umfang eines Quadrates bildete. Das Mädchen schaute mich ratlos an. Ich bat das Mädchen daraufhin, ein Quadrat beliebiger Größe zu zeichnen. Ohne Ausrüstung mit einem Lineal lieferte sie etwa folgende Skizze:
blob.png
Nun bat ich sie noch einmal, eine ähnliche Form aus dem Draht zu fertigen. – Wieder völlige Ratlosigkeit.

Ein anderes Beispiel: Ich legte 24 Bonbons auf einen Tisch und forderte einen sechsjährigen Jungen auf, diese gerecht an vier Kinder zu verteilen. Da der Junge nicht mit der Verteilung begann, stelle ich vier Namensschilder auf den Tisch und bat ihn, sich Kinder hinter diesen Namensschildern vorzustellen. Darauf begann der Junge, die Bonbons einzeln in die Nähe der Namensschilder zu legen. Nach gelungener Lösung stellte ich die Frage, ob man den langen Verteilungsprozess auch kürzer gestalten könnte. Diese Frage blieb unbeantwortet.

Meine Nachfrage im erste Falle diente der Prüfung des Begriffsverständnisses. Der Begriff ‚Quadrat‘ war der Schülerin offenbar geläufig. Ein Lösungsstrategie stellte sich dennoch nicht ein. Natürlich hätte man mit geschicktem mäeutischem Nachfragen fortfahren können. Aber kann man sagen: ‚Dieses Mädchen kann Mathematik?‘

Die Einhilfe im zweiten Falle gab bereits einen deutlichen Hinweis auf eine Lösungsstrategie und wurde dann umständlich aber richtig gelöst. Daher stellte die Frage nach einer Verkürzung der praktizierten Lösung eine Zusatzaufgabe dar, die nicht gelöst werden konnte. Kann man wirklich sagen: ‚Dieser Junge kann Mathematik?‘

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Was wolltest du von einem sechsjährigen Jungen hören? Das man einfach 24 durch 4 teilen muss, um auf 6 zu gelangen?

Bedanke das ich zwar mit 6 Jahren schon mit meinen Eltern Karten gespielt habe. Ich konnte also Karten schon einzeln oder zu weit austeilen.

Ob ich aber schon erkannt habe, dass das Austeilen von jeweils zwei Karten eine Verkürzung ist, wie du es dir vielleicht denkst, kann ich dir so auch nicht sagen. Das Austeilen von jeweils 2 Karten ist nicht wesentlich kürzer.

Mit 6 Jahren erkundet man gerade den Zahlenraum bis 20. Dann ist vielleicht 24 schon ein unbekannter Begriff und Multiplikation und Division sind vielleicht auch noch nicht Geganstand des Unterrichts gewesen.


Was das Mädchen betrifft, hat sie vielleicht nur gewartet, ob du ihr noch eine Zange anbietest oder hast du erwartet, dass sie den Draht mit den Händen zurechtbiegt. Hättest du ihr aber eine Zange gegeben, hätte sie dir vielleicht aus dem Draht auch ein Fahrrad basteln können, wie sie es mal bei einem Handwerker gesehen hat.


Ich finde es persönlich sehr schwierig, das zu beurteilen. Gerade mit 6 Jahren bringt man leider die Mathematik noch nicht mit der Realität überein.

Beispiel: Ich bitte ein Kind sich an eine Linie zu stellen und 7 Schritte vorwärtszugehen. Anschließend die bitte jetzt 3 Schritte rückwärtszugehen. Auf die Frage, wie viele Schritte sie jetzt von der Linie entfernt steht, folgte nur ein Achselzucken. Auf die Frage was 7 - 3 ist, folgte die prompte Antwort 4.

Mir zeigt es nur, dass in der Schule versucht wird, die Mathematik viel zu theoretisch zu vermitteln.

Ich weiß noch, dass ich schon mit 5 Jahren Lego und Murmeln gespielt habe und dass das für mich das die ersten Schritte in Sachen Mathematik waren.

So gab es Murmeln in drei Größen mit dem Wert 10, 20 und 50. Und wenn man eine von den ganz dicken großen Murmeln haben wollte dann konnte man die halt gegen 5 kleine Murmeln eintauschen.

Auch mit Lego weiß man das man einen Achter beim bauen evtl. durch zwei Vierer oder vier Zweier ersetzen kann.


Mathematik in der Grundschule verbinde ich aber vor allem mit dem Begriff Eckenrechnen. Wer als Erstes eine Aufgabe lösen kann, darf sich setzen. Das Spiel endete meist damit, dass ich als Letztes noch in meiner Ecke stand, weil ich nicht so schnell wie die anderen war.


Wer will jetzt beurteilen, ob jemand Mathematik kann oder nicht?

Mathecoach, du ergänzt meine Ausführungen um interessante Aspekte. Sie führen auf eine Antwort: Nicht jeder kann Mathematik.

Übrigens, das von mir gemeinte abkürzende Verfahren der Bonbonverteilung besteht darin, die Bonbons nicht einzeln zu verteilen sondern zuvor eine Mindestzahl für jeden abzuschätzen. Bei unzutreffender Abschätzung kann dann leicht nachkorrigiert werden. Aber das muss ich dir ja nicht antworten, da du das sicher wusstest.

Es kann auch nicht jeder Klavier spielen, es kann auch nicht jeder Auto fahren, es kann auch nicht jeder auf zwei Beinen laufen, ... so überraschend ist die Aussage also gar nicht. Ergo kann auch nicht jeder Mathematik.

Apfelmännchen, ich sehe das genauso wie du: Nicht jeder kann eine Riesenfelge am Reck. Aber warum hält sich die Behauptung 'Jeder kann Mathematik' hartnäckig (sogar in Buchtiteln zum Beispiel von Johannes Mensing und Josef Naber)?

Der IQ ist normalverteilt. Die Tests sind so gestaltet, dass der Erwartungswert bei 100 und die Standardabweichung bei 15 liegt. D.h. ca. 16% der Menschen haben einen IQ<85. Daher verwundert es mich nicht, dass du solche Erlebnisse mit deinen Schülern hattest.

Der Erwartungswert 100 wird übrigens nur in 15 Ländern erreicht oder übetroffen. In den meisten Ländern schafft die Bevölkerung im Schnitt schlechtere Resultate. Das liegt nicht unbedingt daran, dass die Menschen in diesen Ländern dümmer sind, sie sind nur weniger auf die Inhalte trainiert, die IQ-Tests abfragen.

https://www.laenderdaten.info/iq-nach-laendern.php

Kann wirklich jeder Mathematik?

nach einigen Jahrzehnten als Nachhilfelehrer und mindestens zwei bis drei Unterhaltungen mit erfahrernen Lehrkräften, zu genau diesem Thema, ist die Antwort:

                                          Nein!

Wobei man natürlich sagen muss, dass 'Mathematik können' keine Eigenschaft ist, die man entweder hat oder gar nicht hat. Ich unterstelle, dass es sich um einen sehr weiten grauen Übergang handelt von 'nicht können' bis 'wirklich gut können'.
Aber unabhängig davon: IMHO gibt es Menschen, die es nicht könnnen.

1 Antwort

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"Kann jeder Mathematik?" soll doch wohl eher heißen

"Kann jeder Mathematik lernen ?". Das würde ich bejahen,

wenn die Verhältnisse drumherum ( Motivation, Zeit, Gesundheit, geeignete Lehrkräfte

und Materialien etc.) stimmen.

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mathef, nicht zu vergessen unter den Verhältnissen drumherum: Die kognitive Leistungsfähigkeit des/der Lernenden.

Die kognitive Leistungsfähigkeit des/der Lernenden.

Willst du die dem Mädchen und dem Jungen aus deiner Anfangsfrage absprechen?

Es ist schon etliche Jahre her, da bekam ich einen Nachhilfeschüler, der in der 9 Klasse war und auf einer 5 stand. Der Mathelehrer hatte die Schüler dort vor kurzem gefragt, welche weitere Schule sie besuchen wollen. Da sagte der Junge, dass sein Vater ihm auf dem Gymnasium anmelden wolle.

Da lachte der Mathelehrer und sagte, dass er das vergessen kann, denn in Mathe würde er es nie zu etwas bringen.

Fazit von der Geschichte am Ende der zehnten Klasse stand der Schüler auf einer 2 in Mathematik und sein Selbstbewusstsein war so gestärkt, dass er bis zum Abitur keine weitere Nachhilfe brauchte und das Abitur im Fach Mathematik mit 12 Punkten bestanden hat.

Nicht jedem, der zu Anfang schüchtern und zurückhaltend ist und nicht gleicht mit einer Lösung daherkommt, sollte man vorschnell irgendwelche geistigen Fähigkeiten absprechen.

Mich hat mein Physiklehrer nach dem Abitur gefragt, Was ich studieren wolle. Meine Antwort 'Mathematik' führte bei ihm zu der Reaktion: 'Das schaffst du nie!' Heute bin ich pensionierter Mathematiklehrer. Was folgert Der_Mathecoach daraus?

Ich schlussfolgere, dass man manchen Lehrern ihre Kompetenzen absprechen sollte und nicht nur die Kompetenzen.

Und dass man allen die Kompetenzen absprechen sollte, voreilig aus irgendwelchen Sachverhalten Schlussfolgerungen zu ziehen.

Und ich übe Kritik, wenn du denkst, dass man aus deinen Praxisbeispielen schlussfolgern kann, dass nicht jeder Mathematik kann.

Sicherlich kann nicht jeder Mathematik. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass selbst Kinder mit einer diagnostizierten Dyskalkulie durchaus später im Matheunterricht in der Schule erfolgreich sein können.

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